Gebrauchsanweisung fuer Indien
verläßt, triffst du auf einen brutalen Arbeitsmarkt. Jede Firma, die eine Stelle ausschreibt, wird von Bewerbungen überflutet.«
Manche Wirtschaftsführer übertreffen sich gegenseitig mit optimistischen Prognosen. »Die Software-Industrie wird Indien so umwälzen, wie die Automobilindustrie die USA Anfang des vorigen Jahrhunderts umgewälzt hat«, äußerte der Industrielle Abhijit Sen stellvertretend für viele. »Wir können auf dem Rücken der Software zur Wirtschaftsmacht werden.« (Auf dem Rücken der Atomwaffenversuche, das haben die nach einem Sitz im Sicherheitsrat strebenden Machthaber Indiens in den letzten Jahren schmerzhaft erfahren müssen, wird es gewiß nicht gelingen.) Schöne Illusionen? Zwar wächst die Branche um mehr als fünfzig Prozent im Jahr, doch der Boom wird im wesentlichen von etwa sechshundert Firmen genährt, die insgesamt gerade einmal dreihunderttausend Fachleute beschäftigen. Und selbst wenn sich die Erwartungen des Branchenverbands Nasscom bestätigen und das Exportgeschäft im Jahr 2008 rund fünfzig Milliarden Dollar umsetzen sollte, werden die Softwaregurus ihren Erfolg recht einsam genießen. Die eklatante Diskrepanz zwischen Elite und ungebildeter Masse wird Indien weiterhin nach unten ziehen. Selbst für einfache Aufgaben, hört man Geschäftsleute immer wieder klagen, lassen sich fähige, selbständige Mitarbeiter nur schwer finden.
So eifrig sich der Staat in den letzten Jahrzehnten um die Förderung von Universitäten, technischen Hochschulen und Colleges gekümmert hat (jährlich werden etwa hunderttausend Informatiker ins Berufsleben entlassen), sosehr hat er bei den Grundschulen versagt. Obwohl die Alphabetenrate laut offiziellen Zahlen seit 1991 von 52 auf 64 Prozent angestiegen ist, weist Indien die weltweit mit Abstand höchste Zahl an Analphabeten auf. (Wiederum bildet Kerala mit einer Alphabetisierungsrate von über neunzig Prozent eine Ausnahme, Resultat einer konsequenten, beharrlichen Bildungspolitik über mehrere Legislaturperioden.) Zudem ist das Niveau der staatlichen Volkssschulausbildung teilweise so miserabel, daß die Schüler keine nützlichen Kenntnisse erwerben können. Zwei Drittel der eingeschulten Kinder gehen vor der achten Klasse von der Schule. Angesichts der absurd niedrigen Mittel, die auch die jetzige Regierung für Bildung bereitstellt, wird der Staat dem wachsenden Andrang auf seine Bildungsinstitutionen (über neunzig Prozent der Eltern gaben vor kurzem in einer Umfrage an, es sei wichtig, daß ihre Kinder eine schulische Ausbildung erhielten) nicht genügen können.
Die Linderung dieses Problems ist bislang örtlichen Graswurzelinitiativen überlassen, die eine von Indiens Stärken darstellen. Im ganzen Land haben sich über die letzten Jahrzehnte Selbsthilfegruppen wie etwa die Fraueninitiative SEWA, basisdemokratische Strukturen in den Panchayats, landwirtschaftliche oder handwerkliche Kooperativen wie die sehr erfolgreiche Milchcoop Amul sowie Protestgruppen gebildet. Von ihnen gehen wichtige Impulse zur Neugestaltung der indischen Gesellschaft aus. Und immerhin können sie innerhalb eines Rahmens agieren, in dem Menschenrechte, Unabhängigkeit der Justiz und Meinungsfreiheit teilweise gewährleistet sind. Solange diese »Millionen von Rebellionen«, um V. S. Naipauls eloquente Beschreibung zu zitieren, stattfinden, haben die Optimisten in Indien ein Wörtchen mitzureden.
8. Googly
Googly (Fachbegriff): 1. Ein Wurf im Kricket, bei dem der Ball beim Aufspringen seine Richtung ändert und damit den am Schlag befindlichen Gegenspieler täuscht. Eine Variante des off-spin (siehe Encyclopaedia Cricketeria, 66. Auflage, Lords 2004). 2. Ein Trick, eine Täuschung, eine Falle, ein versteckter Angriff. 3. Synonyme: Flatterball, Bananenflanke.
FRENCH GOOGLY! schrie die Überschrift des Mumbai Mirror. Da die Franzosen Kricket nicht schätzen (obwohl sie merkwürdigerweise Rugby spielen), mußte sich die Schlagzeile auf etwas Unsportliches beziehen. Ein Flugzeugträger namens Le Clemenceau sollte in Indien zur Ruhe zerlegt werden, in einem kleinen Ort an der Gujarati-Küste namens Alang, an dessen langem Strand aufgrund der ungewöhnlich starken Unterschiede zwischen Ebbe und Flut in den letzten fünfzehn Jahren mehr als zweitausend Ozeanriesen verwertet worden sind. Ein Großauftrag für eine Industrie, die Wanderarbeitern aus den verarmten Provinzen Uttar Pradesh und Bihar eine gefährliche und schlechtbezahlte Arbeit bietet. Doch die
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