Gebrauchsanweisung fuer Indien
Äthiopier namens Ezana Bocresian Haile, warf den ersten Ball, er sprang vor mir auf, rutschte zwischen meinem Schläger und meinem rechten Bein hindurch und krachte gegen die Hölzer. Selten hat sich Talentmangel so schnell offenbart. Nach diesen kläglichen Auftritten wurde ich künftig nur noch als zwölfter Mann eingesetzt und hatte somit jede Menge Zeit, im Schatten einer Plane meinen Gedanken nachzugehen, und wer weiß, vielleicht wäre ich nicht Schriftsteller geworden, hätte ich damals den Ball gefangen oder getroffen.
Jahrzehnte später saß ich in der Pressebox des Ferouzh-Kotla-Stadions in Delhi, inmitten der größten Experten, die der Subkontinent aufzuweisen hat, im Auftrag einer deutschen Zeitung, die indische Politik und Gesellschaft anhand des Spieles zwischen den Gastgebern und Pakistan zu erklären. Zuerst vermuteten die Sportreporter, ich sei Engländer oder Australier, bis ich eine Verständnisfrage stellte, die von so verblüffender Unschuld war, daß die versammelte Medienmannschaft für einige Momente den Atem anhielt und dem deutschen Exoten alle Aufmerksamkeit widmete. Ein Mann aus Kerala und zwei junge Bangladeschi nahmen mich unter ihre Fittiche. Fünf Tage lang saß ich von früh bis spät in ihrem Unterricht und lernte die Termini technici des Spiels, lernte, was ein ›silly point‹, ein ›sticky wicket‹, ein ›maiden over‹, ein ›nightwatchman‹, ein ›yorker‹ und ein ›duck‹ ist, und immer wieder mußte ich bestätigen, was meinen neuen Gurus (siehe Kap. 3) so unfaßbar schien, daß nämlich in Deutschland Fußball populärer ist als Kricket. Vor allem aber erhielt ich einen Einblick in das schwere Leben eines Kricketreporters. Stundenlang geschieht so gut wie gar nichts, die zwei Spieler am Schlag wehren den Ball defensiv ab, den Werfern fehlt es an Kraft, Genauigkeit und Spritzigkeit, und man beschließt, sich die Beine zu vertreten, doch kaum hat man das Stadion verlassen, hört man einen Schrei aus dreißigtausend Kehlen, eilt zurück und erfährt, daß der wichtigste pakistanische Batsman gerade ausgeschieden sei, weil der von ihm in die Tiefe des Spielfeldes geschlagene Ball von einem der indischen Spieler akrobatisch gefangen worden sei, ›a sensational catch‹. Wer die Geduld aufbringt, ein Testmatch konzentriert zu betrachten, für den ist jede Meditation des Zen-Buddhismus ein Kinderspiel.
Oft werde ich gefragt, was mich an Kricket fasziniere, wieso ich als einigermaßen vernünftiger Mensch den ganzen Tag gebannt zuschauen könne, wie sich Schatten schneller bewegen als Körper. Lange hab ich nach einer überzeugenden Antwort gesucht, bis ich sie fand, die letztendliche Begründung: Kricket ist die hohe Kunst, Tun vom Nichtstun zu unterscheiden.
9. Monsun
Monsun (vom arabischen mawsim, ›Jahreszeit‹): 1. Saisonaler Wind im Indischen Ozean. 2. Der Zeitabschnitt in Indien, der durch starke Regenfälle charakterisiert ist. 3. Der Regen, der sich dem Monsun verdankt.
Für wenige Tage im Hochsommer ist der Leiter einer Wetterwarte im südlichen Indien der wichtigste Mann des Landes. Chefredakteure, Verbandsvorsitzende und Großunternehmer rufen ihn an, der Premierminister meldet sich persönlich, um anzufragen, wie die Vorhersagen lauten. Denn sie alle fiebern der Ankunft des einen entgegen: des Monsuns. Die Gespräche im Land kennen kein anderes Thema. Und der Meteorologe, erfahren im Umgang mit hohen Erwartungen, gibt Jahr für Jahr wohldosierte Antworten: In einer Woche werde er die Südspitze Keralas erreichen, der atmosphärische Druck gebe Anlaß zu Hoffnung, ein guter Monsun kündige sich an. Die Nachricht prangt auf den Titelseiten. Das große Warten beginnt.
Eines der ersten Feste, zu denen ich in Bombay eingeladen wurde, war eine Monsoon Welcoming Party. Es war der 8. Juni, und der Monsun hatte Goa, fünfhundert Kilometer südlich gelegen, schon erreicht. Die Idee war einleuchtend. Ein Gast, den man von weit her willkommen heißt, wird sich beeilen. Schon im Mai hatte sich der Monsun angekündigt. Der Himmel war schwer geworden, hing tief, eine schmutzige Wattedecke, gelegentlich stürmten Winde durch die Stadt, die jedes Staubkorn erfaßten und umherwirbelten, und es fielen einige Regenschauer, flüchtig, wie zur Probe. Und wer inmitten von fünfzehn Millionen hechelnden und hustenden Menschen in der Lage war, Tiere wahrzunehmen, der konnte das Liebesgezwitscher der Vögel hören, vor allem die geradezu hysterischen Schreie des Common
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