Gebrauchsanweisung für Südengland
der Stein der Weisen
Nieselregen umhüllt das Schloß mit einem grauen Schleier. Die herbstliche Landschaft versinkt im farblosen Nichts. Krähen, aufgeschreckt, ziehen protestierend ihre Kreise um den Schloßturm. Die Dämmerung sinkt lautlos auf Dunster Castle.
Verloren steht ein kleines Grüpplein Menschen auf dem nassen Schloßhof. Anfängliches Gelächter und das rege Gespräch versickern langsam. Auch wenn es keiner zugeben will – ein wenig flau im Magen ist es den meisten. Schließlich sollen sie gleich die wahren Hausherren des mittelalterlichen Schlosses kennenlernen: die Gespenster, von denen manche Einheimische wie von guten, alten Bekannten sprechen.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Die Taschenlampen der Geisterführer Jane und Alan erhellen das Gemäuer nur dürftig. Erster Stop ist der neben dem Museumsshop gelegene Stall.
»Eines Abends«, erzählt Jane, »wollte die Geschäftsführerin den Shop schließen. Doch sie sah noch einen Besucher in den Stall gehen – ein Mann im grünen Mantel. Als sie ihm nachging, löste er sich plötzlich in Luft auf. Genau hier, wo wir stehen.« Die Gruppe rückt etwas näher zusammen. »Oft«, so fährt Jane flüsternd fort, »sind Gegenstände im Shop über Nacht umgeräumt. Und viele unserer Besucher befällt eine eigenartige Stimmung in diesem Teil des Stalls. Als ob hier einst ein Mord geschehen wäre …« Da erschüttert ein heftiger Knall den stockfinsteren Stall, und in der Gruppe ist sich keiner mehr so sicher, ob diese Geistertour wirklich eine gute Idee gewesen ist.
Dunster Castle thront bereits seit dem 11. Jahrhundert oberhalb des pittoresken Örtchen Dunster in Somerset und blickt Richtung Westen auf den mittelalterlichen yarn market auf der Hauptstraße und die buntgestrichenen Cottages des Bilderbuchdorfes, in denen man sich mit cream tea laben kann. Dahinter erheben sich die Höhen des Exmoors, während der Blick gen Norden über den Bristol Channel hinweg weit nach Südwales reicht.
Über 600 Jahre lang war es das Zuhause der Luttrell-Familie, die das burgähnliche Schloß erst vor wenigen Jahrzehnten dem National Trust übergab – Sir Walter Luttrell haben Sie bereits als den Hausherrn von Court House in Eastquantoxhead kennengelernt, der seine Gärten ab und an für einen guten Zweck der Öffentlichkeit zugänglich macht. Heute lebt nur noch der vom National Trust eingesetzte Schloßverwalter in den düsteren Gemäuern von Dunster Castle. Eines Abends, so berichtet Jane, hatte er in seinem Büro das Licht brennen lassen. Als er zurückgehen wollte, hörte er ein unheimliches Türenschlagen und unerklärliches Scheppern, das ihm Schauer den Rücken herunterrieseln ließ. Er drehte sich um und floh in seine Wohnung, denn außer ihm hätte sich niemand mehr im Gebäude aufhalten sollen.
Während des Winterhalbjahres ist Dunster Castle wie alle im Besitz des National Trust befindlichen Häuser für Besucher nicht zugänglich, und die wenigen Mitarbeiter, die hier noch Dienst tun, haben normalerweise um 17 Uhr Feierabend. Seit jenem denkwürdigen Abend vermeidet es der Schloßverwalter, nach Einbruch der Dunkelheit in dem alten Gemäuer unterwegs zu sein.
Im Dunkeln geht’s hinab in das Labyrinth der Kellerund Vorratsräume. Irgendwo im Hintergrund rasseln Ketten, daß einem der Atem stockt. Doch weiter geht’s, über endlose, unbeleuchtete Wendeltreppen, während es überall rumort und knarrt. Auf Zehenspitzen schleicht die Gruppe durch die Dachräume, wo einst die Dienstboten lebten. Plötzlich läutet eine Glocke, die in den guten, alten Zeiten den Butler zum Dienst in den Gemächern des Schloßherrn rief. Schloßherr und Butler haben das Schloß längst verlassen, auch die Zimmer der Kammerzofen stehen leer. Aber die Glocke läutet noch immer, eine unsichtbare Hand zieht irgendwo in den zahlreichen Räumen des Schlosses beharrlich am Glockenstrang und gebietet Aufmerksamkeit …
Schaudernd stehen die Geisterjäger schließlich in einem Raum, der mit großen flämischen Wandbehängen ausgestattet ist. Die dunklen Augen der abgebildeten Männer blitzen im Schein der Taschenlampen. Nachts ertönen hier feste Schritte, Männer wechseln leise Worte. Dann ist wieder alles still. Der Lauscher ist Zeuge einer Wachablösung, denn während des Bürgerkrieges im 17. Jahrhundert waren in diesen Räumlichkeiten Soldaten stationiert.
Der Flur liegt zwischen zwei Zimmern, die zu der Privatwohnung des Schloßverwalters gehören. Wenigstens
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