Gebrochene Schwingen
der Richter. »Beantworten Sie die Frage.«
»Ja, ich nehme an, daß man das so sagen kann.«
»Oh, man kann das so sagen?« Wendell lächelte breit in Richtung des Publikums und blickte dann wieder auf Mr.
Meeks. »Ist das das Verhalten einer ordentlichen Schülerin?«
»Nein, aber – «
»Bedeutet eine seltene Anwesenheit nicht ernsthafte Disziplinschwierigkeiten?«
»Natürlich.«
»Abgesehen von ihrem unreifen Verhalten besuchte Fanny Casteel doch regelmäßig den Unterricht, nicht wahr, Mr.
Meeks?«
»Das kann man so ausdrücken.«
»Mr. Meeks«, sagte Burton freundlich, »ich verstehe, wie Sie sich fühlen. Sie richten darüber, ob eine erwachsene Frau eine bessere Mutter ist als eine andere erwachsene Frau, und das auf der Grundlage ihres Verhaltens während der ersten Jahre in der Oberschule. Ist das nicht ungefähr so verläßlich, als würde man die Kristallkugel einer Wahrsagerin befragen?«
»Einspruch, Euer Ehren«, sagte Lakewood. »Er verlangt von dem Zeugen, daß er seine eigene Aussage hinterfragt.«
»Aber Euer Ehren, Mr. Lakewood verlangt von dem Gericht schon die ganze Zeit, daß es die Gültigkeit von Mr. Meeks’
Urteil bewertet.«
»Ich sehe das anders, Mr. Burton«, sagte der Richter. »Mr.
Lakewood hat Fakten dargelegt. Abgesehen davon bin ich derjenige, der die Gültigkeit dieser Informationen bewertet.
Einspruch stattgegeben. Noch weitere Fragen an den Zeugen, Mr. Burton?«
»Keine, Euer Ehren. O doch… noch eine«, sagte er und drehte sich schnell um. »Mr. Meeks, neulich brachte Mrs.
Stonewall Drake Casteel zu Ihnen, um ihn in Ihrer Schule einzuschulen, nicht wahr?«
»Ja.« Mr. Meeks lehnte sich zurück und faltete die Hände.
»Und Sie haben den Jungen aufgenommen, obwohl er noch nicht alt genug ist, nicht wahr?«
»Ja, aber – «
»Mit anderen Worten, Sie haben Mr. und Mrs. Stonewall zuliebe eine Ausnahme gemacht, um den beiden zu gefallen?«
»Nein, es war keine Gefälligkeit. Wir können Ausnahmen machen, wenn der zukünftige Schüler besonders begabt zu sein scheint.«
»Ich verstehe. Dann hatten Mr. und Mrs. Stonewalls Position und ihr Einfluß in dieser Gemeinde nichts mit Ihrer Entscheidung zu tun?«
»Einspruch, Euer Ehren!«
»Oder vielleicht Ihre Zeugenaussage hier an diesem Tag?«
fügte Wendell Burton noch schnell hinzu.
»Euer Ehren?« beharrte Lakewood. Ich war froh zu sehen, daß er genauso aggressiv sein konnte wie Wendell Burton.
»Euer Ehren, ich versuche nur zu zeigen, daß dieser Zeuge voreingenommen ist«, sagte Burton.
»Mr. Burton, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich mich nur um die Fakten kümmere, die Mr. Meeks dem Gericht liefert, und nicht um ihre subjektive Bewertung. Darum ist es unnötig, wenn Sie in diesem Fall seine Befangenheit beweisen wollen. Haben Sie jetzt noch weitere Fragen?«
»Nein, Euer Ehren.«
»Ich habe noch eine Frage, Euer Ehren«, sagte Lakewood.
»Bitte fragen Sie.«
»Mr. Meeks, Mrs. Stonewall kam als Lehrerin zur Winnerow-Schule zurück. Wie würden Sie als Schulleiter ihre Arbeit bewerten?«
»Sie hat es sehr gut gemacht. Die Schüler mochten sie, das Kollegium akzeptierte sie, und ihr Fachwissen war ausgezeichnet.«
»Sie hatte also eine gute Beziehung zu den Kindern?«
»Sie wurde sehr vermißt, als sie ging. Und auch ich war enttäuscht, daß sie sich entschlossen hatte, nicht zurückzukehren«, sagte Mr. Meeks. Tränen traten mir in die Augen, als ich ihn das sagen hörte, und ich erinnerte mich an meine Trauer, als ich das Lehren aufgab, um in Farthy zu leben. Logan griff unter dem Tisch nach meiner Hand.
»Danke. Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«
»Sie können jetzt an Ihren Platz zurückgehen, Mr. Meeks.«
»Euer Ehren«, sagte Lakewood, »wir möchten jetzt Reverend Wayland Wise in den Zeugenstand rufen.«
Dieses Mal ging ein leises Raunen durch das Publikum, so als hätten alle gleichzeitig eingeatmet. Reverend Wise, der ganz hinten im Gerichtssaal stand, schritt langsam und bedächtig zum Zeugenstand. Nie zuvor hatte er so grimmig und vornehm ausgesehen. Die Menschen, die am Mittelgang saßen, lehnten sich zurück, als würde er die Luft zerschneiden, so wie Moses das Rote Meer geteilt hatte. Sogar der Richter schien beeindruckt zu sein. Die Stimme des Reverends war laut und fest, als er den Eid schwor. Er ergriff dabei die Bibel und legte die Hand darauf. Sein Gesicht war ernst und seine Augen durchdringend, als sei er in der Kirche und blickte dem Teufel direkt ins
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