Gebrochene Schwingen
und sie ließ beinahe ihre Teetasse fallen.
»Nun, ich glaube, daß du einen schrecklichen Fehler machst, aber wenn du dazu entschlossen bist, dann gibt es nichts mehr, was ich dazu sagen kann.« Sie stellte die Teetasse so schnell ab, daß sie beinahe zerbrach. »Bitte«, sagte sie und stand auf,
»erzähle Logan nicht, daß ich hergekommen bin, um dir einen Rat zu geben. Er bat mich, es nicht zu tun.«
»Und warum hast du es dann getan?« fragte ich schnell.
»Manchmal weiß eine Mutter, was besser ist für ihr Kind…
instinktiv«, sagte sie.
»Genauso fühle ich es, Mutter«, sagte ich. »Obwohl ich nicht Drakes Mutter bin, weiß ich instinktiv, was besser für ihn ist.
Und ich tue, was ihr sicher am liebsten wäre. Ich habe vor, ihn zurückzugewinnen. Ich hoffe, du wirst da sein, um uns während dieser Zeit zu unterstützen.«
»Oh, natürlich werde ich das«, sagte sie schnell. »Ihr Armen, natürlich.« Sie kam um den Schreibtisch herum, um mich zu küssen. Ihre Lippen fühlten sich kalt an auf meiner Wange.
»Ruf mich einfach immer an. Und wir werden gleich an eurer Seite sein.«
Sie schüttelte den Kopf, seufzte und ging.
Ich lehnte mich zurück und blickte aus dem Fenster. Es mußte wärmer geworden sein, denn es hatte zu schneien begonnen. Aber mein Herz fühlte sich an, als sei es von einer kalten Hand umklammert. Natürlich hatte ich Angst vor morgen. Natürlich machte ich mir Sorgen über die Zukunft meines eigenen Kindes. Aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Drake erwachsen werden würde und mich eines Tages mit den gleichen Augen ansehen würde wie Luke, gefüllt mit einer ähnlichen Ablehnung. Ich wollte so sehr seine Liebe gewinnen, wollte, daß er mich als seine Schwester liebgewann. Fanny fühlte, wie sehr ich das wollte. Deshalb hatte sie beschlossen, ihn mir wegzunehmen.
Ich hatte genug davon, die Menschen, die ich liebte, zu verlieren.
»Nein, Loretta«, flüsterte ich, »es gibt keinen anderen Weg.
Diese Reise, gefüllt mit Schmerz und Leiden, geht dort zu Ende, wo alles begonnen hat… in den Willies. Und so sollte es sein. Sicher sollte es so sein.«
Ich wandte mich wieder den Papieren auf dem Schreibtisch zu, entschlossen, bereit zu sein.
16. KAPITEL
Der Prozeß
Der Gerichtssaal konnte die Menschenmenge kaum fassen; er war so vollgestopft wie ein Truthahn zum Erntedankfest. Den Tränen nahe, erzählte mir Logans Mutter, daß einige Leute in Winnerow tatsächlich ihre Arbeitsplätze hatten verlassen wollen, um an der Anhörung teilnehmen zu können.
Dieser frühe Novembertag brachte uns unser erstes richtiges Winterwetter. Es hatte den ganzen Morgen über heftig geschneit, und ein scharfer Wind verwandelte die Flocken in tanzende Derwische. Bei einem so rauhen und brutalen Wetter hatte ich mit weniger Leuten gerechnet. Aber die ganze Stadt wollte anscheinend bei dem Spektakel Zeuge sein. Als Logan und ich mit Camden Lakewood eintraten, starrte uns die Menge tuschelnd an; die Stimmen waren wie trockene Blätter, die von den ersten Winden des Winters davongeblasen wurden. Alles über uns war Futter für ihre gierigen Mäuler: die Kleider, die wir trugen, der Ausdruck auf unseren Gesichtern und unsere Haltung, wie wir durch den Mittelgang zu unseren Plätzen gingen, die direkt vor dem Tisch des Richters waren.
Es war Camden Lakewoods Idee, daß wir sofort einen Kontrast zwischen uns und Fanny und Randall aufbauen sollten. Logan trug einen seiner teuren dunkelblauen Anzüge und einen Mantel aus Lambswool und ich ein dunkelblaues Wollkleid, ein Diamantarmband mit passender Kette und Ohrringen und meinen Silberfuchsmantel. Mein Haar hatte ich nur an den Seiten hochgesteckt.
Logans Eltern saßen direkt hinter uns; seine Mutter sah aus, als würde sie jeden Moment ersticken: Ihr Gesicht war feuerrot. Sein Vater lächelte warm und nickte aufmunternd.
Das Stimmengewirr der Menge schwoll an, als Fanny, Randall und ihr Anwalt, Wendell Burton, eintraten. Fanny und Randall hatten vor zwei Wochen noch schnell standesamtlich geheiratet.
Fanny ging einige Schritte vor den beiden Männern her. Sie hatte ihr volles schwarzes Haar zu einem Knoten zusammengebunden und trug lange, silberne Ohrringe, die wie Eiszapfen von ihren Ohrläppchen herunterhingen. Ich war überrascht, wie gut sie aussah in ihrer dunkelgrünen Wolljacke. Die weite Kapuze der Jacke hatte sie in dem Augenblick abgenommen, als sie zur Türe hereinkam. Sie hatte ein schwarzes Wollkleid mit Stehkragen und
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