Geburtstag in Florenz
stockte ich unwillkürlich. Sie betete nicht, da noch nicht. Sie war wohl niedergekniet, aber es sah eher so aus, als ob sie zusammengebrochen wäre. Ihre Arme hingen leblos herunter, und allerlei Päckchen und Schachteln, offenbar Weihnachtseinkäufe, waren um sie her am Boden verstreut. Sie hielt die Augen geschlossen, ihr Atem ging langsam und schwer. Aus Sorge, daß sie vielleicht krank sei, berührte ich sie sacht an der Schulter.
›Fehlt Ihnen etwas? Brauchen Sie Hilfe?‹ Sie wandte mir das Gesicht zu, und da sah ich, daß ihr gequältes Atmen vom Weinen herrührte. Ihre Wangen waren tränennaß, die Augen stark geschwollen. Sie antwortete auf italienisch.
›Ich kann nicht nach Hause …‹ ›Freilich nicht … in dem Zustand. Kommen Sie, setzen Sie sich erst einmal einen Moment.‹ Ich mußte sie stützen und fürchtete, trotz ihres erkennbaren Seelenschmerzes, ehrlich gesagt vor allem um ihr körperliches Wohl.
›Ist Ihnen schwindlig?‹ Sie schüttelte den Kopf. ›Ich kann nicht nach Hause‹, wiederholte sie und versuchte, ihre Weihnachtseinkäufe aufzuheben, die aber unter ihren fahrigen Händen nur noch ärger durcheinanderpurzelten. Und überdies schien der bloße Anblick der Pakete sie in neuerliche Verzweiflung zu stürzen, denn plötzlich stieß sie die Sachen von sich und begann zu schluchzen. Wir alle weinen, schon von Kind auf, anders, wenn uns jemand hören kann, ist Ihnen das schon einmal aufgefallen, Maresciallo? Nun, ich sammelte die Päckchen ein und faßte die Bedauernswerte beim Arm.
›Kommen Sie mit mir und ruhen Sie sich ein Weilchen aus, bis es Ihnen wieder besser geht. Aber nicht hier – es ist immer so kalt in diesem gewaltigen Kirchenschiff.‹ Sie folgte mir lammfromm, konnte aber kaum aus eigener Kraft gehen, so daß ich sie stützen mußte und dabei buchstäblich die Last ihres Kummers fühlte. Ich brachte sie in die Mesnerkammer hinter der Sakristei und machte Licht.
›Kann ich Ihnen irgend etwas anbieten?‹ Sie schüttelte den Kopf. Ich befürchtete immer noch, sie könne zusammenbrechen, denn schon das Atmen kostete sie offenbar große Mühe.
›Möchten Sie mir denn erzählen, was Sie bedrückt?
Oder wollen Sie vielleicht beichten?‹ Sie schaute mich verständnislos an.
›Beichten?‹ ›Sie sind doch katholisch?‹ ›Das schon, ja. Aber ich gehe nicht zur Kirche …‹ ›Heute sind Sie gekommen. Waren Sie in der heiligen Messe?‹ ›Nein …‹
Ich setzte mich dicht vor sie hin, denn sie sah aus, als könne sie jede Minute vornüberkippen. Sie weinte immer noch, schien aber gar nicht zu merken, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, und ihr Schluchzen war verstummt.
›Versuchen Sie, tief durchzuatmen. So ist’s gut. Und nun sehen Sie mich an, mein Kind. Ich bin Priester und außerdem ein sehr alter Mann. Was es auch sein mag, ich höre es vermutlich nicht zum ersten Mal, und Ihnen verschafft es vielleicht Linderung, sich auszusprechen, besonders einem Fremden gegenüber, falls Sie mich lieber so betrachten denn als Priester.‹ ›Ja.‹ ›Haben Sie denn noch mit niemandem über das gesprochen, was Sie bedrückt?‹ Sie schüttelte den Kopf. ›Ich schäme mich zu sehr, ich kann nicht …‹ ›Aber Sie möchten auch nicht beichten?‹ Wieder schüttelte sie den Kopf. ›Ich weiß nicht, was ich getan habe … Doch irgendwas muß ich getan oder vielleicht auch zu tun versäumt haben. Ich fühle mich verantwortlich, aber zu beichten habe ich nichts.‹ ›Wissen Sie denn, was Sie in die Kathedrale geführt hat?‹ ›O ja, meine Angst.‹ ›Sie brauchen Hilfe.‹ ›Ich hab mich gefürchtet. Dabei hab ich mir solche Mühe gegeben, und ich dachte … ich hab mich zusammengenommen, war einkaufen. Ich kaufte … dann bin ich einfach hier drinnen zusammengeklappt. Ich schaff’s nicht, ich kann’s einfach nicht! Und dabei will ich nicht sterben, Pater, das müssen Sie mir glauben, aber vielleicht geschieht es ja immer so, gegen den eigenen Willen!‹ ›Selbstmord?‹ ›Ja …‹ ›Davor fürchten Sie sich?‹ Sie nickte. ›Aber ich will es nicht, glauben Sie mir.‹ ›Ich glaube Ihnen ja, meine Tochter. Wollen Sie einen Augenblick mit mir beten?‹ ›Das kann ich nicht, nicht mit Worten.‹ ›Schon gut, daß Sie hergefunden haben, ist im Grunde auch ein Gebet, nicht wahr? Haben Sie denn als Kind gebetet?‹ ›Mit meinem Vater, ja. Als ich noch ganz klein war.‹ ›Und welche Gebete haben Sie miteinander gesprochen? Erinnern Sie sich nach
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