Geburtstag in Florenz
verzeihen war wohl zu schwer für ein so kleines Mädchen. Vielleicht hätten Sie das lieber Gott überlassen sollen.‹ ›Aber sollten nicht auch wir Menschen einander verzeihen?‹ ›Doch, ja, aber wir sind solche Amateure, finden Sie nicht? Und Gott ist ein Profi – ah, sieh da, Sie können ja lächeln! Das freut mich. Aber warten Sie, ich will noch die Lampe dort drüben anmachen, bei der kümmerlichen kleinen Deckenbirne kann ich Sie ja kaum sehen.‹ Und ich mußte sie mir einfach genauer ansehen. Schließlich erzählte sie mir nur von Dingen, die viele, viele Jahre zurücklagen, die zwar wichtig, aber doch nicht der Grund waren, der sie am Weihnachtsabend in ein fast leeres Gotteshaus geführt hatte. Beim Sprechen beobachtete ich nun prüfend ihr Gesicht.
›Weihnachten kann eine sehr schwierige Zeit sein. Für die Armen, die Einsamen, für die, die erst kürzlich einen geliebten Menschen verloren haben.‹ Sie antwortete nicht, schloß aber für einen Moment die Augen und war gewiß wieder den Tränen nahe.
›Es ist sehr anstrengend, über Dinge zu reden, die uns tief berühren. Vielleicht sollten Sie jetzt heimgehen. Und wenn Sie wiederkommen und sich aussprechen wollen – ich bin immer bereit zuzuhören.‹ Sie schüttelte den Kopf.
›Ich habe ihm vergeben. Wie hätte ich ihm nicht verzeihen können, wo er so viel durchgemacht hat? Und ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Menschen, den ich liebe, zu enttäuschen oder ihn gar in der Stunde seiner Not im Stich zu lassen! Aber es geht nicht, und ich weiß nicht, was ich noch tun kann!‹ ›Nicht doch! Sie tun schon viel zuviel, und alles, um sich Trost zu verschaffen. Denn Sie waren ja die Verlassene, das bedauernswerte Geschöpf, diejenige, die man in der Stunde ihrer Not allein gelassen hat. Aber manipulieren Sie jetzt nicht andere, um Ihren eigenen Schmerz zu lindern?‹ Heute frage ich mich, ob ich zu grausam war, zu brüsk – aber ich dachte natürlich, ich würde womöglich nie wieder Gelegenheit haben, mit ihr zu sprechen, und so war es ja auch. Im übrigen war sie eine intelligente Frau, andernfalls hätte ich mich nicht so weit vorgewagt. Es ist so ein weitverbreitetes Problem, finden Sie nicht auch, Maresciallo, diese Tendenz, uns mit Hilfe anderer zu trösten? Die meisten Menschen machen es über ihre Kinder, ist Ihnen das schon mal aufgefallen? Haben Sie Kinder?«
»ZweiJungs.«DerMarescialloverspürteeineleise Beklemmung, wie in Erwartung einer uneingestandenen Schuld.
»Zwei kleine Söhne.« Die Augen des Priesters leuchteten, aber nicht vorwurfsvoll, sondern ausgesprochen gütig.
»Das müssen schwere Zeiten gewesen sein in Ihrer Jugend in Sizilien, sicher ähnlich wie damals in Irland, als ich jung war.«
»Allerdings, ja.« Guarnaccias Stimme klang abwehrend.
»Und es muß Ihnen viel Freude bereiten, den beiden all das zu ermöglichen, was Sie einst entbehrt haben.«
Der Maresciallo dachte an die Skiferien der Jungs und an eine ganze Reihe kleiner Extravaganzen, die er nicht hätte erlauben sollen. Aber er war stolz darauf gewesen, daß er den Kindern all das bieten konnte. Ob er die beiden verzog?
»Sie verwöhnen sie ein bißchen, womit Sie nur ein klein wenig Ihrem Egoismus frönen, Maresciallo. Freilich werden Ihre Kinder dadurch einmal nicht Ihre Charakterstärke haben.«
»Es fällt schwer, den Kindern etwas zu verweigern, obwohl man es sich leisten kann.«
»Stimmt. Das ist sogar sehr schwer – und wenn Sie’s trotzdem täten, könnten Ihre Kinder das womöglich mißverstehen und Ihnen gram sein deswegen. Ja, eine einfache Lösung für dieses Dilemma gibt es wohl nicht. Trotzdem habe ich es am Weihnachtsabend gewagt, diese Frau auf das Problem hinzuweisen, und sie hat mich verstanden, da bin ich mir ganz sicher. Und als ich nun hörte, daß Sie den Todesfall untersuchen, da hatte ich sofort das Gefühl, ich müsse mit Ihnen sprechen. Ich war so überzeugt, wie menschliche Fehlbarkeit das nur zuläßt, daß sie sich nicht das Leben genommen hat und daß sie, welches Problem sie auch belastet haben mag, eine gewisse Klarheit gewonnen und die Krise fast schon überwunden hatte, als sie die Kathedrale verließ. Und weiter dachte ich mir, obwohl ich damit womöglich in Ihr Revier eindringe, Maresciallo, daß jemand, der wußte, wie intensiv sie sich mit dem Gedanken an Selbstmord beschäftigt hatte … also vielleicht dürfte ich mich ja nicht erkühnen …«
»Sie meinen, dieser Jemand könnte versucht haben, es
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