Gedankenmörder (German Edition)
würde. Falls tatsächlich einer der Reporter in vier, fünf Tagen noch einmal nachfragen sollte, was die Untersuchung denn bislang ergeben habe, würden die Laboranten eben noch länger brauchen. Erfahrungsgemäß blieb kaum ein Journalist über Wochen detailliert an einem Mordfall dran. Die meisten hatten genug damit zu tun, die tagesaktuellen Dinge in ihren Redaktionen zu bewältigen.
Die Ersten packten bereits ihre Blöcke und Kugelschreiber ein. Noch ein paar Interviews, und sie hätten es geschafft.
Steenhoff suchte den Blick von Andrea Voss, aber die Reporterin verabschiedete sich nur flüchtig und verschwand in einem Pulk von Kollegen. Damit erfüllte sie genau die Vereinbarung, die er vor zwei Jahren mit ihr getroffen hatte. Wann immer sie sich vor anderen Polizeibeamten oder im Präsidium zufällig trafen, würden beide sich nur höflich grüßen. Denn ein freundschaftlicher oder gar vertrauensvoller Kontakt zur Journaille war den meisten Beamten und vor allem der Polizeiführung so suspekt, dass diejenigen, die diese unsichtbare Linie überschritten, schnell als potenzielle Maulwürfe in ihren Abteilungen galten.
Steenhoff war gerade mit Tewes auf dem Weg in die Kantine, als Andrea Voss ihn über Handy anrief.
«Hallo Ira», begrüßte Steenhoff die Reporterin so laut, dass auch Tewes und Degert es hören mussten. Er nickte den beiden kurz zu und blieb hinter ihnen zurück.
Andrea Voss begriff sofort: «Ich rufe wohl gerade total ungelegen an», sagte sie.
«Allerdings», antwortete Steenhoff. «Aber in den nächsten Tagen wird es kaum einen Moment Ruhe geben.»
«Habt ihr eigentlich Drogen in ihrem Körper gefunden?»
«Das steht noch nicht fest. Warum fragst du?»
Andrea Voss dachte über die Auskunft nach.
«Na, wenn nicht, dann könnte man schon mal den klassischen Sexualmord an einer Drogenprostituierten ausschließen.»
«Eine gewagte These», hielt Steenhoff ihr entgegen. Ungerührt fuhr Andrea Voss fort: «Eine typische Beziehungstat kann man wohl auch getrost streichen. Wer misshandelt die Leiche seiner Freundin oder Expartnerin schon nach ihrem Tod?»
Steenhoff seufzte laut auf: «Das solltest du besser wissen, Andrea. Gerade wenn zuvor eine enge Beziehung bestand, kommt es manchmal zu einem Overkill. Das heißt, der Täter sticht beispielsweise noch zehnmal zu, obwohl sein Opfer schon längst tot ist.»
«Du brauchst mir keinen kriminologischen Vortrag zu halten, Frank. Ich weiß, dass du dasselbe fürchtest wie ich. Gestern Nacht hat mit hoher Wahrscheinlichkeit unser Täter wieder zugeschlagen. Degert selbst hat gesagt, dass die Frau vor und nach ihrem Tod misshandelt wurde. Ich finde, ihr solltet die Öffentlichkeit warnen, statt eure Informationen zu glätten. An der Uni stehen abends ständig Anhalterinnen, die ihren Bus verpasst haben oder von einer Feier im Wohnheim wieder zurück in die Innenstadt wollen und sich nicht mit dem Rad durch den Bürgerpark trauen.»
«Wir werden keine unnötige Panik verbreiten», sagte Steenhoff bestimmt. Insgeheim fragte er sich aber, ob der Vorwurf nicht auch berechtigt war.
«Tut mir leid, Frank. Da sind wir unterschiedlicher Meinung. Es geht nicht um Panik, sondern um Aufklärung. Ich werde morgen mit der Geschichte aufmachen und auf mögliche Parallelen verweisen.»
«Das ist purer Sensationsjournalismus», sagte Steenhoff eisig. «Wirklich?» Die Stimme von Andrea Voss klang gereizt.
«Na, dann entspreche ich doch endlich mal dem Bild, das ihr von mir habt.»
16
Das erste Treffen der großen Mordkommission fand unmittelbar nach der Pressekonferenz statt. Sie hatten noch ein paar Stühle aus den Nachbarzimmern der Staatsschützer holen müssen, damit alle einen Sitzplatz fanden. Es war eng, aber dafür zumindest kühl. Steenhoff hatte Fabian Block gebeten, für ausreichend Getränke zu sorgen. Der Butterkuchen für die Staatsschützer als Dank für den schattigen Raum musste warten. Dafür war jetzt keine Zeit.
Als Steenhoff begann, schauten ihn die knapp 20 Kolleginnen und Kollegen aufmerksam an. Er wusste, dass er manche aus eigenen Ermittlungen herausgerissen hatte, und bedankte sich als Erstes, dass sie ihre Arbeit für den Fall liegen gelassen hatten. Eine Höflichkeit, mehr nicht, denn bei größeren Mordfällen war es üblich, dass alle in den ersten Tagen mithalfen.
Aber Steenhoff brauchte nicht nur erfahrene Helfer, sondern engagierte Ermittler. Er müsste alle seine Kollegen dazu bringen, diesen Fall für ein paar Tage
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