Gedankenmörder (German Edition)
oder Wochen zu ihrem eigenen Fall zu machen. Ansonsten war die Gefahr zu groß, dass Befragungen nur halbherzig durchgeführt oder manche Fragen erst gar nicht gestellt würden.
Statt chronologisch die Fakten vorzutragen, entschied sich Steenhoff, mit seiner Einschätzung des Falles anzufangen. Er wollte seine Kollegen gefühlsmäßig erreichen.
«Dies hier ist kein normales Tötungsdelikt, und es ist kein normaler Täter», begann Steenhoff.
«Wir haben es hier mit einem Menschen zu tun, der sich an Leichen vergeht, toten Frauen die Brust abschneidet, sie entwürdigt und verstümmelt. Doch offenbar reichen ihm tote Opfer nicht mehr. Gestern hat er seine abartigen Phantasien an einer jungen Frau ausgelebt. Sie ist qualvoll gestorben.»
Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort.
«Bevor er sie erwürgte, hat er ihre Brüste zerbissen.»
Steenhoff sah, dass ein paar seiner Kollegen angewidert das Gesicht verzogen. Eine neue Kollegin, die zuvor viele Jahre im Kommissariat für Sexualdelikte gearbeitet hatte, schüttelte stumm den Kopf. Alle schauten ihn konzentriert an.
«Nachdem, was wir bislang von ihm wissen», fuhr Steenhoff fort, «schlägt er alle paar Wochen zu. Es ist gut möglich, dass manche Leichenschändungen in der Vergangenheit von dem Krankenhauspersonal oder von den Bestattern nicht angezeigt wurden. Viele fürchten mehr um ihren Ruf als um die ihnen anvertrauten Toten.»
Niemand sagte etwas. Alle hörten gespannt zu.
«Wir wissen noch nicht viel über den Mann. Aber seit gestern steht fest, dass er nicht davor zurückschreckt, zu töten und – dass er Lust am Quälen hat. Diese Einschätzung teilen auch die Fallanalytiker, mit denen ich heute Mittag bereits kurz gesprochen habe. Wenn diese Annahme zutrifft, und ich habe keinen Zweifel daran, dann gehört unser Täter mit großer Wahrscheinlichkeit zu der kleinen Gruppe von sadistisch veranlagten Mördern. Nach allem, was wir von solchen Menschen wissen, hören sie nicht auf zu töten.»
Steenhoff hielt einen Moment inne und ließ die Worte wirken. Dann fuhr er fort: «Laut unserer Kollegen von der Fallanalyse entwickeln sich solche Tätertypen über Jahre hinweg. Es beginnt damit, dass sie zu Gedankenmördern werden, die sich Tag für Tag an ihren perversen Phantasien ergötzen. Sie spielen die Taten immer und immer wieder in Gedanken durch. Wochen- und monatelang.»
Gebannt hörten ihm die Kollegen zu.
«Doch irgendwann reicht einem Gedankenmörder seine Phantasie nicht mehr. Der lustvolle Kick stellt sich immer später ein. Er braucht mehr als seine Phantasie. Das ist der Zeitpunkt, wo er sich nach einem potenziellen Opfer umschaut.»
Viele von Steenhoffs Kollegen nickten. Er spürte, dass niemand mehr an seinen eigenen vollen Schreibtisch dachte. Er hatte es geschafft. Sein Fall war der Fall der gesamten Mordkommission geworden.
In den nächsten zwei Stunden fasste Steenhoff zusammen, was sie bislang zusammengetragen hatten. Bewusst ließ er es zu, dass die Kollegen, die neu eingestiegen waren, ihn unterbrachen, wenn sie einen Widerspruch zu entdecken meinten oder Zusammenhänge nicht verstanden. Oft genug waren sie in den vergangenen Jahren durch einen gedanklichen Perspektivwechsel oder einen Kollegen, der eine häufig gestellte Frage nur ein wenig anders formuliert hatte, plötzlich in ihren Ermittlungen weitergekommen.
Karsten Ludwigmann, ein älterer Kollege, der Steenhoff direkt gegenübersaß, meldete sich zu Wort.
«Gab es eigentlich an allen Leichen DNA -Material, und war es immer identisch?»
Steenhoff nickte. «Der Mann hat sich keine großartige Mühe gemacht, Spuren zu vermeiden. Aus gutem Grund: Er ist nicht in der DNA -Datei des Bundeskriminalamtes gespeichert.»
«Das heißt aber auch, dass er trotz seiner abartigen Neigungen ein unauffälliges Leben führt», warf ein junger Beamter ein. «Du hast recht», sagte Steenhoff. «Dieser Gedanke ist wichtig. Er lebt vermutlich mitten unter uns. Aber zu seinem möglichen Profil werden uns die Fallanalytiker in zwei, drei Tagen etwas sagen können.»
Vera Börder, die Frau aus dem Kommissariat für Sexualdelikte, rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. «Ich verstehe noch nicht, woher der Kerl wusste, wie man in die Pathologie des Krankenhauses West gelangt, und vor allem, wie er ahnen konnte, dass Birgit Lange auf dieser Kreuzung schwer verunglücken würde?»
Sie stockte, schien aber noch einen Gedanken zu verfolgen.
«Denk laut weiter»,
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