Gedankenmörder (German Edition)
anderen Kollegen machten sich auf den Weg zu dem Neubaugebiet, um nach möglichen Zeugen zu suchen. Vielleicht war jemand noch spätabends spazieren gegangen oder hatte seinen Hund ausgeführt und ein verdächtiges Auto auf der schmalen Straße entlang des Torfkanals bemerkt.
Steenhoff ging in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Wie erhofft, lag in seinem Eingangskasten der vorläufige Obduktionsbericht des Gerichtsmediziners. Steenhoff holte sich einen Kaffee und ein Glas Wasser und vertiefte sich in die Unterlagen.
Die detaillierten Beschreibungen der Verletzungen und die dazugehörigen Fotos schnürten ihm einen Moment lang die Kehle zu.
Das abgeschminkte Gesicht zeigte eine junge Frau mit hohen Wangenknochen, einem vollen Mund und einer kräftigen Nase. Die Nase wirkte auf Steenhoff, als sitze sie etwas schief im Gesicht.
Der Obduktionsbericht bestätigte seinen Eindruck. Die Unbekannte hatte sich zu Lebzeiten ihre Nase zweimal gebrochen. Erstaunt las Steenhoff, dass sich auf dem Rücken der Toten drei verheilte Brandnarben in unmittelbarer Nähe zueinander befanden. Was hatten die Verletzungen zu bedeuten?
Gespannt las er weiter. Der Gerichtsmediziner hatte außerdem mehrere Hämatome in der unteren Hautschicht festgestellt, die schon einige Tage alt waren.
Steenhoff schaute nachdenklich aus dem Fenster. Konnte es sich doch um eine Beziehungstat handeln? Das grausame Ende nach vielen gewalttätigen Auseinandersetzungen? Aber wie passten dann die Schändungen der anderen Frauen in dieses Beziehungsgeflecht? Nein, wahrscheinlicher war, dass die junge Frau vor ihrem Tod von jemand anderem misshandelt worden war. Er blätterte ein paar Seiten zurück und sah sich das Foto von den verheilten Brandflecken auf dem Rücken des Opfers an. Sie erinnerten ihn an einen furchtbaren Fall, der schon viele Jahre zurücklag und den er in Gedanken jahrelang mit sich herumgeschleppt hatte. Damals war ein kleines Mädchen im Bremer Norden sexuell missbraucht und anschließend ermordet worden. Der Täter hatte ihr nach dem Mord noch eine Zigarette auf dem Rücken ausgedrückt. Bereits drei Tage später hatten sie den Mann, einen jungen Klempner, gefasst. Steenhoff hatte selten wieder so viel Abscheu gegenüber einem Menschen empfunden wie gegenüber diesem Mörder. Die Narben der Unbekannten ähnelten denen des Kindes. Spontan griff Steenhoff zum Telefon und wählte die Handynummer des Gerichtsmediziners.
Der Mann war sofort dran. Seine Stimme klang so, als stünde er in einer riesigen leeren Halle. ‹Er ist noch in der Pathologie›, schoss es Steenhoff durch den Kopf.
Der Gerichtsmediziner bestätigte zögernd seinen Verdacht.
«Ich kann es nicht belegen, aber wenn Sie mich nach meinem Eindruck fragen, dann hat tatsächlich jemand dieser Frau vor Monaten brennende Zigaretten auf die Haut gedrückt.» Er räusperte sich, und das erste Mal meinte Steenhoff, eine Spur von Mitgefühl in seiner Stimme wahrzunehmen. «Das Martyrium scheint für die junge Frau schon lange vor ihrer Todesnacht angefangen zu haben.»
Genau derselbe Gedanke war auch Steenhoff schon gekommen. Er bedankte sich bei dem Mediziner und legte auf. Wer war die Unbekannte, und warum vermisste sie niemand? Steenhoff spürte, wie wieder die Verzweiflung in ihm hochstieg. Sie mussten unbedingt den Namen des Opfers herausfinden. Ohne die Identität der Frau zu kennen, hätten sie kaum eine Chance, den Täter jemals zu fassen. Steenhoff griff sich das Bild des abgeschminkten Opfers und ging eine Etage tiefer zu seinen Kollegen aus der Sitte.
Es war zwar schon früher Abend, aber in dem Kommissariat für Sexualdelikte arbeiteten die meisten Frauen und Männer oft bis in die Abendstunden hinein. Doch die Kollegen, die regelmäßig im Rotlichtmilieu unterwegs waren, um bei den Prostituierten um Vertrauen zu werben, gewalttätiger Freier habhaft zu werden und vor allem den Überblick über das Gewerbe zu behalten, waren sich sicher, die ermordete Frau nie gesehen zu haben. Nur eine junge Beamtin, die Steenhoff bislang noch gar nicht bemerkt hatte, schien einen Moment zu zögern.
«Könnte es sein, dass du die Frau schon einmal gesehen hast?», hakte Steenhoff nach. Statt der Beamtin antwortete ihr Zimmergenosse, mit dem sie auch während des Dienstes im Milieu unterwegs war. «Völlig ausgeschlossen, so eine krumme Nase wäre uns aufgefallen.»
«Bist du dir da auch sicher?», wandte sich Steenhoff direkt an die Frau.
«Ja, ich denke schon.»
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