Gedankenmörder (German Edition)
rätselte, was den Redakteur zu diesem Schritt bewogen haben könnte. Vermutlich würde die Stelle bereits heute Mittag ein Ziel für Voyeure sein.
Erneut griff er sich den Artikel von Andrea Voss.
Sie hatte zunächst die Fakten genannt, war dann aber ins Spekulieren gekommen. Allein aus den Verletzungen, die der Täter dem Opfer nach seinem Tod zugefügt hatte, schloss sie, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Parallele zu den früheren Fällen gab. Auch ohne weitere Einzelheiten zu kennen, lag sie mit ihrer Einschätzung richtig.
Widerstrebend musste Steenhoff ihr ein gewisses Gespür für den Fall einräumen. Der Vorwurf allerdings, die Polizei wiegele ab und widersetze sich Befürchtungen, ein Serientäter könnte unterwegs sein, ärgerte ihn maßlos. Erstens war die Mordkommission längst zum selben Schluss gekommen, und zweitens hatten sie eine Verantwortung, mit ihrem ungelösten Fall nicht die ganze Stadt in Aufruhr zu versetzen.
«Noch ein Tässchen?»
Bevor Steenhoff antworten konnte, hatte ihm die Kioskverkäuferin in ihrer Durchreiche schon nachgeschenkt. Als sie jedoch zwei Schnapsgläser auf die enorme Oberweite einer spärlich bekleideten Schönheit vom Zeitungsstapel vor sich stellte, lehnte Steenhoff ab. Ungerührt schenkte sich die Frau einen Korn ein. Ihre mit Altersflecken übersäte Hand tätschelte seinen Arm.
«Lassen Sie sich nicht kirre machen, Herr Kommissar. Gut Ding braucht Weile.»
Steenhoff musste sich eingestehen, dass er die Frau zum ersten Mal bewusst anschaute. Er schätzte, dass sie mindestens 75 Jahre alt sein musste. Sie war zart gebaut und auffällig dünn.
‹Vermutlich kocht sie nicht mehr für sich allein oder hat einfach den Appetit verloren›, schoss es Steenhoff durch den Kopf.
Das Auffälligste waren ihre Augen. Sie waren von einem so intensiven Blau, dass er bei einer jüngeren Frau sofort an farbige Kontaktlinsen gedacht hätte.
Wenn sie lachte, schimmerte für Sekunden ihre frühere Schönheit durch. Plötzlich tat sie ihm unendlich leid.
«Warum stellen Sie sich in Ihrem Alter eigentlich noch in einen Kiosk?»
Steenhoff hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Was für eine idiotische Frage. Vermutlich lebte sie von einer erbärmlichen Rente und konnte sich kaum mehr als das Nötigste leisten.
«Ich bin einfach gern unter Menschen, Herr Kommissar», sagte die Frau schlicht.
«Gut versorgt bin ich. Mein verstorbener Mann hat immer anständig verdient. Aber er wollte nie, dass ich arbeiten gehe. Und so musste ich zu Hause bleiben, obwohl wir keine Kinder hatten. Dafür habe ich jetzt ganz viel junges Gemüse um mich herum.»
Wie zur Erklärung zeigte sie auf ein Glasfenster, hinter dem appetitlich belegte Brötchen lagen. «Die Kleinen kaufen sich auf dem Weg zur Schule was zu essen bei mir, besuchen mich nachmittags oder erzählen mir ihre neuesten Abenteuer. Eines meiner Mädchen, Lisa, die muss ich immer Französisch-Vokabeln abfragen. Ich hatte früher auch Französisch. Schließlich war ich auf der höheren Töchterschule.»
Die alte Frau stützte sich mit den verschränkten Oberarmen auf einem Zeitschriftenstapel ab und plauderte munter weiter.
‹Hoffentlich wirst du nie überfallen›, dachte Steenhoff plötzlich. Als hätte sie seine Gedanken erraten, hielt die Frau in ihrem Redefluss inne.
«Sie schauen so besorgt, Herr Kommissar?»
Steenhoff räusperte sich verlegen. Wie sollte er die alte Frau warnen, ohne ihr Angst zu machen.
«Ja, wissen Sie …» Steenhoff stockte, «zurzeit haben wir ein paar Jugendliche in Bremen, die Kioske überfallen. In der Regel sind die nicht gefährlich», fügte er beschwichtigend hinzu. «Aber Sie sollten in Ihrer Kasse nie viel Geld aufbewahren.»
Die Alte nickte eifrig. «Ich weiß. Ich kenne die. Neulich war auch so einer hier bei mir.»
Überrascht schaute Steenhoff sie an. «Sie sind überfallen worden? Haben Sie das angezeigt?»
Die Frau schüttelte den Kopf. «Ach, Herr Kommissar, nun gucken Sie doch nicht so. Der war doch noch ein halbes Kind. Höchstens 16 oder 17 Jahre alt. Aber der Junge hat mich wütend gemacht, als er mit diesem Ding da vor meiner Nase herumgefuchtelt hat, das gebe ich zu.»
Sie tauchte plötzlich wieder in das Innere ihrer papierenen Welt, kramte umständlich in einer Kiste und legte einen silberfarbenen Revolver auf den Zeitungstresen.
«Den hat er bei mir vergessen», sagte sie, und Steenhoff meinte, einen triumphierenden Unterton in ihrer Stimme
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