Gedenke deiner Taten
gemerkt, dass Birdie sie von allen ihren Kindern am meisten liebte? Wie hatte ihr das entgehen können?
Birdie war noch ganz mit diesem Mosaik aus Überlegungen und Träumen beschäftigt, als ein Geräusch sie weckte. Sie setzte sich auf und lauschte, konnte aber nichts hören. Sie wusste, irgendetwas stimmte nicht. Sie spürte es in den Knochen, so wie den neuerlich aufziehenden Regen (und es würde bald wieder regnen). Birdie lag im Dunkeln und wartete.
Als Chelsea aufwachte, war ihre Mutter verschwunden. Sie rollte sich auf den Rücken und lauschte. Sie konnte Lulu im Nebenzimmer tief atmen hören, sonst war es still. Ihre Mutter war nicht im Bad. Wo war sie dann? Chelsea stand auf und lief ans Fenster. Zwischen den Bäumen tanzte der Lichtkegel einer Taschenlampe. Bestimmt wollte Kate nur nach Birdie sehen.
»Soll ich heute Nacht bei dir bleiben, Mutter?«, hatte Kate am Abend noch gefragt.
»Sei nicht albern«, hatte Birdie gefaucht. Chelsea liebte ihre Großmutter, aber sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand so mit Kate sprach. Sie hatte sich bei ihrer Mutter untergehakt und das Haupthaus verlassen, ohne Birdie eine gute Nacht zu wünschen. Kate ließ sich nie so gehen, nicht einmal, wenn sie wütend wurde. Dieser Tonfall war Chelsea und auch Sean und Brendan fremd. Ihr leiblicher Vater Sebastian wurde manchmal ausfällig, daran erinnerte Chelsea sich noch gut, auch wenn er sie inzwischen behandelte wie ein rohes Ei. Sie erinnerte sich, was er Kate auf den Anrufbeantworter sprach, wenn er getrunken hatte. Er hatte Gift verspritzt. Chelsea dachte nur ungern daran zurück. Das war nun alles Vergangenheit, und sie klammerte sich an den Gedanken, dass alles Hässliche und Gemeine von der nächsten Flut hinfortgespült wurde wie Sandburgen am Strand.
Chelsea ging ins Nebenzimmer, um nach Lulu zu sehen, die tief und fest schlief. Sie nahm Lulu den Blackberry aus der Hand. Lulu murrte, drehte sich um und zog sich das Laken über den Kopf.
Offenbar hatte Lulu mit Conner telefoniert und zu ihrer großen Zufriedenheit festgestellt, dass er sie immer noch mochte und keinesfalls mit Bella angebändelt hatte. »Sie kann mir nicht das Wasser reichen«, hatte sie gesagt. Dabei hatte sie ein bisschen traurig ausgesehen; Chelsea hatte ihr die Fröhlichkeit nicht abgekauft. Nicht zum ersten Mal tat Lulu ihr leid. »Natürlich nicht«, hatte Chelsea zum Trost gesagt, »niemand kann das.«Lulu hatte sie dankbar angesehen, aber da war noch etwas in ihrem Blick gewesen. Hatte sie ein schlechtes Gewissen? Chelsea musste es sich eingebildet haben.
So wie den Mann auf dem Anleger. Wie konnte man seinen Augen zu hundert Prozent trauen, im nächsten Moment aber die größten Zweifel bekommen? Chelsea hatte Angst gehabt, sie hatte weglaufen wollen. Aber dann war der Mann verschwunden, und schon als sie zum Haus sprinteten, war Chelsea sich albern und hysterisch vorgekommen.
Immer schon hatte sie die Inselgeister sehen wollen, an die Tante Caroline so fest geglaubt hatte. Sie hatte ihre Existenz immer angezweifelt, so wie sie nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte. Aber auch da hatte sie jahrelang mitgespielt, denn die Vorstellung war einfach zu schön … die fliegenden Rentiere, der Weihnachtsmann im Kamin, die Geschenke, die Abrechnung mit braven oder ungehorsamen Kindern. Die Story stimmte hinten und vorn nicht, dennoch hatte Chelsea sie geliebt und lange daran festgehalten. Vielleicht war heute Abend genau das passiert. Jahrelang hatte sie sich nach den Geistern gesehnt, und nun hatte sie endlich gesehen, was sie sehen wollte.
Es war so wie mit Adam McKee. Als der Handyempfang für eine kurze Weile möglich war, hatte Chelsea gesehen, dass er sich nicht mehr gemeldet und auch nichts auf seiner Seite geschrieben hatte.
»Vergiss ihn«, sagte Lulu, »er ist ein Loser.«
Aber Chelsea konnte ihn nicht vergessen. Die Enttäuschung drückte ihr auf den Magen wie ein Virus. Was war nur mit ihr los? Die Jungen rannten Lulu die Bude ein und legten sich ins Zeug, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, und das, obwohl Lulu sie ausnutzte, beschimpfte und abwies. Lulu suchte sich sicher bald den Nächsten und himmelte ihn an, wie sie jetzt Conner anhimmelte. Sobald sie sich seiner Gefühle sicher war, ließ sie ihn fallen.
Eigentlich hatte Chelsea noch nie einen Freund gehabt. Wahrscheinlich würde sie nie einen haben. Du bist anders als die anderen Mädchen. Inzwischen verkehrte sein digitales Schweigen das Kompliment ins Gegenteil.
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