Gedenke deiner Taten
anzulegen – es war zu unsicher, eine gefesselte Person in einem so kleinen Boot zu transportieren. Das Gewitter war vorbei, aber die Wellen waren immer noch hoch. Außerdem machte sie einen harmlosen Eindruck. Trotzdem hatte sie ein brennendes Haus und zwei Tote zu verantworten. Sanft ließ er die Handschellen zuschnappen, und mit Johns Hilfe schaffte er die Frau ins Boot.
»Vorbei«, sagte sie, »es ist aus und vorbei.«
Roger Murphy hörte, wie verzweifelt und ratlos sie war. Er verstand sie besser, als sie ahnte.
SECHSUNDDREISSIG
B irdie blieb nichts übrig, als das Feuer auf Heart Island aus der Ferne zu beobachten. Sie saßen zu dritt im Polizeiboot, in dicke graue Wolldecken gehüllt, und schauten zu, wie die Flammen im Haupthaus wüteten. Die Wassermassen aus dem Löschkahn schienen nichts gegen das Feuer ausrichten zu können. Sobald das Feuer an einer Stelle gelöscht war, flammte es an einer anderen wieder auf.
Noch nie hatte Birdie sich so machtlos gefühlt. Sie hielt Kates Hand fest umklammert. Chelsea hatte ihren Kopf in Kates Schoß vergraben und nicht mehr aufgehört zu weinen, seit Lulu zum Hafen abtransportiert worden war. Dort wartete der Rettungswagen. Chelsea und Kate würden sie im Krankenhaus wiedersehen.
Birdie weinte nicht mehr. Sie hatte all ihre Tränen vergossen, als man sie von der Insel geholt hatte. Sie wartete auf irgendein Gefühl, aber es war, als sei sie innerlich versteinert.
»Er war da«, sagte sie plötzlich. Sie hatte es nicht aussprechen wollen, aber nun fühlte sie sich erleichtert. Sie wollte den Gedanken nicht länger für sich behalten, er raubte ihr noch den Verstand.
»Wer?«, fragte Kate. Auch sie weinte nicht mehr. Alles war in oranges Licht getaucht. Die Männer riefen sich immer wieder etwas zu, sie hörten sich an wie ein Schwarm seltsamer Nachtvögel.
»Der Geist«, sagte Birdie. »Richard Cameron.«
»Mom!«
»Im Ernst«, sagte Birdie und drehte sich zu Kate um. »Er hat mich gewarnt. Ich habe ihm genommen, was ihm das Liebste war, und jetzt hat er es mir mit gleicher Münze heimgezahlt. Nun sind wir quitt.«
»Du hast ihm nichts genommen!«
»Nein?«
Nach jenem Sommer im Jahr 1950, als Birdie ihre Mutter mit Richard Cameron sah und Richard verschwand, war Lana nicht mehr die Alte. Birdie hätte es nicht beschreiben können, aber es war, als wäre ihre Mutter geschrumpft . Sie erzählte es Kate.
»Na ja«, sagte Kate, »Lana hat ihre Entscheidungen immer noch selbst getroffen. Sie hat sich für Grandpa Jack und für ihre Kinder entschieden.«
»Aber sie hat sich nur meinetwegen entscheiden müssen, weil ich sie erwischt habe«, sagte Birdie.
»Nein, Mom«, widersprach Kate. »Es war längst überfällig. Sie hat sich nicht richtig verhalten. Sie hat alle betrogen, sogar sich selbst. Richard Cameron war ein unbeherrschter, an Depressionen leidender Alkoholiker. Mit ihm wäre sie niemals glücklich geworden.«
Beide Frauen schwiegen.
»In jenem Jahr ist sie noch einmal zurückgekommen«, sagte Kate schließlich, »im Winter. In der Zeit ist wohl auch das Foto in deinem Album entstanden. Vermutlich haben sie die Kamera auf das Verandageländer gestellt und den Selbstauslöser benutzt. Es sieht so aus, als wären sie für die Aufnahme nicht ganz bereit gewesen, oder? Ich wüsste nicht, wer auf den Auslöser gedrückt haben sollte.«
»Wir haben damals einen Fotoapparat besessen«, sagte Birdie. »Seinerzeit nannten nicht viele Leute so ein Ding ihr eigen. Wir schon.«
»In ihrem Tagebuch«, fuhr Kate fort, »hat sie alles aufgeschrieben, was damals passiert ist. Ich habe es dir mitgebracht.«
»Nein«, sagte Birdie und winkte ab, »das will ich nicht lesen.«
»Du musst es erfahren!«
»Noch nicht.«
»Wann dann?«
»Wer weiß. Vielleicht nie«, sagte Birdie.
Kate verstummte und schob ihre Finger zwischen Birdies. Sie machte ein ernstes Gesicht. Birdie drückte ihre Hand.
»Er war ein Zerstörer«, sagte Birdie. »Und das ist sein Erbe. Er hat Untreue und Verrat gesät, und nun ist seine Saat in Flammen aufgegangen.«
»Ja«, sagte Kate, »aber man kann es wieder aufbauen.«
Sie saßen für eine Weile schweigend nebeneinander. Anscheinend bekam die Feuerwehr das Feuer allmählich unter Kontrolle. Pausenlos umkreisten Löschboote die Insel.
Chelsea wollte unbedingt zu ihrer Freundin. Sicher hatte sie Angst und brauchte Chelsea an ihrer Seite. Roger Murphy gestattete ihnen, mit dem Familienboot zum Yachthafen überzusetzen, solange die
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