Gedenke deiner Taten
bei Conner abzuziehen. Nur dass sich Chelsea leider nicht so leicht täuschen ließ. »Sie kann mir nicht das Wasser reichen.«
»Natürlich nicht«, antwortete ihre Freundin, »niemand kann das.«
»Ich weiß!«
Fast hätte sie Chelsea alles gebeichtet. Aber es ging nicht. Sie zog ein Kissen heran und streckte sich vor dem Kamin aus. Im Gegensatz zu Chelsea hatte sie auf dem Anleger nichts gesehen, aber der Gesichtsausdruck ihrer Freundin hatte ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt. Seither hatte sie Angst und zuckte bei jedem kleinen Geräusch zusammen, auch wenn sie Chelsea mit deren Angst vor Geistern aufzog.
Irgendetwas stimmte mit dieser Insel nicht. Die Stille war erdrückend. Der Netzempfang schien sich aus reiner Boshaftigkeit immer wieder zu verflüchtigen. Es war, als wollte die Insel sie vom Rest der Welt isolieren. Lulu wollte den Gedanken laut aussprechen, aber sie hatte schon Chelseas Antwort im Ohr: Du hast zu viele Horrorfilme gesehen.
» Was gefällt dir an dieser Insel?«, fragte Lulu stattdessen. »Ich verstehe es einfach nicht.«
Sie starrte die hohen Deckenbalken an und lauschte auf den Regen. Draußen vor dem Fenster war alles schwarz. Lulu konnte in der Scheibe nur den Innenraum erkennen. Chelsea antwortete nicht sofort. Lulu sah ihre Freundin an, aber die starrte ins Nichts.
»Hier muss ich keine Rolle spielen«, erklärte Chelsea schließlich, »ich kann ganz ich selbst sein.«
Die Antwort überraschte Lulu. Wann war Chelsea einmal nicht sie selbst? Lulu hakte nach.
»Weißt du«, erklärte Chelsea, »hier muss ich mir nicht die Beine rasieren oder mich schminken. Ich kann anziehen, was ich will, und niemanden interessiert’s. Ich muss mich nicht pflegen.«
Die Vorstellung, Chelsea könnte sich pflegen, war Lulu vollkommen neu.
»Du bist perfekt«, sagte sie, »ohne dich dafür anzustrengen.«
»Ja, klar!« Chelsea schnaubte. Dann sagte sie: »Er hat mir nicht mehr geschrieben. Nach dem missglückten Date.«
Lulu wusste, dass sie von Adam McKee sprach. Sie schämte sich unendlich. Sie war eine schreckliche Freundin.
»Vergiss ihn«, sagte sie, »bestimmt ist er ein Loser. Er hat dich nicht verdient.«
»Klar«, sagte Chelsea und klang dabei alles andere als überzeugt, »sicher.«
Lulu hätte es ihr fast gesagt. Aber sie schwieg.
»Ich gehe ins Bett.« Lulu stand auf und wollte gehen. Sie wollte, dass Chelsea mitkam, sich so wie früher zum Einschlafen neben sie ins Bett kuschelte. Aber Chelsea blieb liegen.
»Okay. Ich lese noch ein bisschen und warte ab, ob Mom meinen Dad erreichen kann.« Seit dem Vorfall auf dem Anleger wirkte Chelsea distanziert und nachdenklich, so als beschäftige sie etwas, über das sie nicht reden wollte.
Der Boden unter Lulus nackten Füßen war kalt, und das Bett war hart und unbequem.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, klar«, sagte Chelsea. Aber Lulu wusste, dass sie log. Sie blieb noch für eine Weile unschlüssig stehen, aber Chelsea wandte sich wieder ihrem Buch zu. Lulu verschwand im Schlafzimmer, schlüpfte ins Bett und kuschelte sich hinein. Sie war so müde, dass sie trotz aller Ärgernisse – die blöde Insel, ihr treuloser Freund, Geister, ihr schrecklicher Verrat an Chelsea – sofort in einen tiefen Schlaf fiel.
Mitten in der Nacht wachte Kate auf. Was war das? Sie hörte ein Geräusch in der Stille widerhallen. Es regnete nicht mehr. Chelsea lag direkt neben ihr und hatte einen Arm um ihre Taille gelegt. Sie war, kurz nachdem Kate das Licht ausgeschaltet hatte, zu ihr ins Bett gekrochen, und nun schnarchte sie leise.
Im Mondlicht sah sie wie als Kleinkind aus – die milchweiße Haut, die entspannte Brauenpartie. Ihr Schlaf war tief und unschuldig. In ihren Träumen war Chelsea ungestört; immer schon hatte sie gut und fest geschlafen. Nur Brendan, der kleine Grübler, wachte nachts des Öfteren auf, wenn er unter Stress stand. Das hatte er von Kate.
Kate lauschte in die Stille, konnte aber nichts hören. Sie stieg trotzdem aus dem Bett und schlich ans Fenster. Haupthaus und Hütte lagen im Dunkeln.
Kate hatte beschlossen, gleich am nächsten Morgen aufs Festland zu fahren und zur Polizei zu gehen. Irgendetwas stimmte nicht, war aus dem Gleichgewicht geraten. Sie konnte es nicht erklären, aber es war fühlbar. Caroline war überzeugt gewesen, dass Heart Island eigene Launen und Gefühle ausstrahlte. Kate hätte das nicht unterschrieben, merkte aber, dass etwas anders war als sonst.
Sie schaute aus dem Fenster, verschränkte
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