Gedenke deiner Taten
war es immer schon gewesen. Nie hatte sie Genes und Carolines Rauferei ertragen können, genauso wenig wie Kates und Theos Getrampel und Gelächter. Der Krach bereitete ihr physische Schmerzen, und sie zuckte zusammen. Wahrscheinlich war sie ein Ungeheuer, das nicht ertragen konnte, wenn andere sich amüsierten. Aber sie konnte nicht anders.
Zu gern hätte sie Kate von ihrer Kindheit erzählt und dass sie auf dem Foto, das John Cross besaß, den Mann aus dem Album ihrer Mutter wiedererkannt hatte. Dieser Mann hatte ihre Mutter geküsst, und vielleicht, nur vielleicht hatte sie ihn sogar hier auf der Insel gesehen. Aber wie sollte sie darüber reden? Es klang einfach zu verrückt.
Was hatte dieser Mann ihrer Mutter bedeutet? Offensichtlich war er ihr Liebhaber gewesen. Was hatte es zu bedeuten? Birdie konnte sich gut an den leidenschaftlichen, filmreifen Kuss erinnern. Insgeheim hatte sie ihr ganzes Leben auf so einen Kuss gewartet. Mit Joe hatte sie keine solche Leidenschaft erlebt. Jetzt war es zu spät.
Nur bestimmte Menschen waren fähig, solch eine Leidenschaft zu geben und zu empfangen. Birdie war keine sinnliche, lustvolle Frau. Sie war mager und sehnig, an sie konnte man sich nicht ankuscheln. Ihre Lippen waren schmal, wie gemacht für strenge Worte, Ermahnungen und Tadel. Sie war anders als ihre füllige, leidenschaftliche Mutter.
Und als Caroline, natürlich. Caroline kam ganz nach Lana, auch sie strahlte, lachte und war voller Gefühle. Caroline hatte so viel davon abgekriegt, weil Birdie leer ausgegangen war. Birdie hatte das schmale, harte Gesicht ihrer Familie väterlicherseits mitbekommen, die aufrechte Haltung, den verkniffenen Mund, die stahlblauen Augen. »Warum kann ich nicht so dünn wie du sein?«, hatte Caroline beim ständigen Kampf gegen die Pfunde gejammert. Dabei hätte Birdie früher alles gegeben für Carolines Busen, ihre vollen Lippen, die rosigen Wangen. Spindeldürr zu sein war erst seit wenigen Jahrzehnten in Mode.
Als der Regen nicht mehr aufs Dach prasselte, schlief sie endlich ein. Der Mond schien hell durch die Wolkenfetzen. Sie träumte von ihrer Mutter und Richard Cameron, die sich am Strand küssten. Sie träumte von ihrem gütigen, aber immer fernen Vater. In ihren Träumen verschwand er flink und aufrecht hinter Hausecken. Nie konnte sie sein Gesicht sehen oder ihn aufhalten. Sie träumte, Joe läge neben ihr. »Ach Birdie«, seufzte er, »warum bist du so kalt?«Wie leicht es ihm über die Lippen kam, dabei irrte er, sie war nicht kalt. Ganz im Gegenteil, er war derjenige, der abkühlte, sobald sie in seine Nähe kam, der ihr nie zur Seite stand. Immer konzentrierte sich seine Aufmerksamkeit auf andere. So wie Lana hatte auch Joe nicht die Liebe seines Lebens geheiratet. Weil Birdie jetzt wusste, dass sie damals nicht geträumt hatte, sah sie alles glasklar vor sich.
Es zählte nicht mehr. Sie alle waren längst nicht mehr – Lana, Richard, und selbst Joe war in gewisser Hinsicht nicht mehr da. Ihre Liebe war vor langer Zeit gestorben und hatte nur das leere, aber stabile Gerüst einer Wirtschaftsgemeinschaft zugunsten beider Beteiligten zurückgelassen. Aber die Insel, dachte Birdie, vergisst nichts. Die Liebe und die Lüge sterben niemals aus. Ihre Saat keimt und wuchert von einer Generation zur nächsten, umrankt und erdrückt uns.
Caroline wusste Bescheid, schoss es Birdie mit plötzlicher Gewissheit durch den Kopf. Endlich verstand sie, warum Caroline ihre Ansichten immer so überzeugt kundgetan hatte, wenn sie über ihre Eltern sprachen. Was selten genug vorkam. Caroline hatte Andeutungen gemacht. Mutter hatte ihre kleinen Geheimnisse, von denen du nichts weißt , oder: Mommy und Daddy haben alles andere als eine perfekte Ehe geführt . Wenn Birdie nachhakte, wich Caroline aus und wechselte das Thema. Birdie schob es darauf, dass Caroline zu Übertreibungen neigte und zudem Mutters Lieblingskind gewesen war. Wie hätte sie das jemals vergessen können?
Caroline wusste Bescheid, weil Mutter sie eingeweiht hatte. Diese Vorstellung verletzte Birdie mehr als alles andere. Caroline hatte das Geheimnis, das die Mutter mit ihr, nicht mit Birdie, geteilt hatte, mit ins Grab genommen. Ja, Birdie hatte der Schwester Liebe, Zuneigung, Solidarität vorenthalten, aber Caroline verweigerte ihr das Allerwichtigste: die Wahrheit über jene Nacht, in der Lana sich davongeschlichen hatte. Caroline hatte gewusst, was Lana Birdie nicht verraten wollte. Hatte Lana denn nicht
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