Gedrillt
sie gereizt. »Du siehst dauernd nach der Uhr.«
»Ich muß auf die Bank. Ich erwarte eine Überweisung, und ich schulde Frank Geld.«
»Frank hat haufenweise Geld«, sagte Lisl. Sie rückte auf ihrem Stuhl herum. Auf diese Weise drückte sie die Geringschätzigkeit aus, mit der sie sowohl die Hilfsbereitschaft des Gläubigers als auch meine Ehrlichkeit als Schuldner bewertete. Als ich aufstand, sagte sie: »Und irgendwann muß ich dich bitten, dir dieses Zeug von deinem Vater mal anzusehen.«
»Was für Zeug?«
»Da ist eine Pistole und eine mottenzerfressene Uniform – er trug sie nur, wenn es ausdrücklich von ihm verlangt wurde – und das Kinderbettchen, das deine Mutter der Frau Grieben von gegenüber geliehen hatte, und englische Bücher – Dickens, glaube ich –, die Fußbank und eine Matratze. Außerdem ein dickes Bündel Papiere, Rechnungen und solches Zeug. Ich hätte das alles längst weggeschmissen, aber ich dachte, du würdest es dir lieber vorher noch mal durchsehen.«
»Was für Papiere?«
»Sie waren in diesem alten Schreibtisch, den dein Vater benützte. Er hat vergessen, ihn auszuräumen. Er mußte ja so schnell weg. Er sagte, er würde sie später abholen, und dann hat er’s vergessen. Du weißt ja, wie geistesabwesend er sein konnte. Dann habe ich das Zimmer als Abstellraum benützt und die Sachen selbst vergessen.«
»Wo ist denn das jetzt alles?«
»Und Rechnungsbücher und Bündel von Briefen. Nichts Wichtiges, sonst hätte er mir ja geschrieben und mich darum gebeten. Wenn du das Zeug nicht haben willst, werfe ich’s weg, denn Werner will aus diesem Abstellraum ein Badezimmer machen.«
»Ich würde es mir gern erst mal ansehen.«
»Das ist alles, woran er denken kann. Badezimmer. Ein Badezimmer kann man nicht vermieten.«
»Ja. Ich würde es mir gerne mal ansehen, Lisl.«
»Am Ende wird er weniger Schlafzimmer haben als vorher. Wie aber soll da mehr Geld reinkommen?«
»Wann kann ich mir die Sachen ansehen?«
»Komm, sei nicht lästig, Bernd. Es ist alles weggeschlossen und vollkommen in Sicherheit. Dieser Raum ist voller Gerümpel, und ich wüßte jetzt nicht, wohin damit. Nächste Woche … oder übernächste. Ich weiß nicht. Ich wollte nur wissen, ob du überhaupt daran interessiert bist.«
»Doch, Lisl«, sagte ich. »Danke.«
»Und kaufe mir den neuen Guide Michelin für Frankreich. Den neuen. Er ist eben erschienen. Merk dir, daß ich nicht den alten will.«
»Den Michelin-Hotel-Führer für Frankreich.« Schon seit Jahren war Lisl kaum noch aus dem Hause gekommen, außer wenn sie zu ihrer Bank ging. Seit ihrem Schlaganfall ging sie überhaupt nirgends mehr hin. »Fährst du nach Frankreich?« fragte ich. Ich dachte, daß sie vielleicht den verrückten Plan gefaßt hatte, ihre Schwester Inge zu besuchen, die dort lebte.
»Warum sollte ich wohl nicht nach Frankreich fahren? Werner schmeißt doch den Laden hier, oder nicht? Schließlich sagen sie mir doch dauernd, daß ich mir irgendwo ein bißchen Ruhe gönnen sollte.«
Werner wollte Lisl in einem Altersheim unterbringen, aber ich wußte nicht, wie ich ihr das hätte erklären können. »Der neue Frankreich-Michelin«, sagte ich. »Wird besorgt.«
»Ich will sehen, welche Restaurants die besten sind«, sagte Lisl unschuldig. Ich fragte mich, ob sie scherzte, aber sicher sein konnte man bei ihr nie.
Den Rest des Vormittags bummelte ich über den Ku’damm. Der Schnee war weg, und die Sonne schien diamantenhart. In Fetzen gerissene Wolken entblößten zackige Stücke Blau, aber unter solchen Himmeln bleibt die Temperatur immer bitterkalt. Sowjetische Abfangjäger durchbrachen mit ohrenzerreißendem Knall die Schallmauer, Teil einer systematischen Schikane, der dieser östlichste Vorposten des Kapitalismus ausgesetzt war. Nachdem ich auf der Bank gewesen war, stöberte ich in ein paar Buchhandlungen herum und landete schließlich bei Wertheim. An den Lebensmitteltheken im Keller gab es alle möglichen leckeren Kleinigkeiten. Ich trank ein Glas Bier und aß ein paar Bismarckheringe. Für eine Stunde vergaß ich die Aussicht auf die Verabredung zu einem Mittagessen, das ziemlich ungemütlich zu werden drohte. Meine Probleme verflüchtigten sich. Ringsum waren die immer fröhlichen Stimmen der Berliner. Für meine Ohren waren ihre schlechten Witze und Schimpfwörter Musik, denn in Berlin fühlte ich mich zu Hause. Ich war wieder ein Kind; wenn ich den Ku’damm entlang zurückrannte, würden meine Mutter am Herd und mein Vater am
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