Gefaehrlich begabt
eingeweiht, hatte Anna nicht damit gerechnet, dass sie so dominant ihr Leben regieren würde. Und das noch auf derart abscheuliche Art und Weise. Wenn sie noch einmal die Wahl hätte, sie würde ihren blutigen Finger nicht wieder auf ein Testament drücken.
Ihre Mutter saß neben ihr auf dem Boden. Ihre dunkelblauen Augen hatten den Glanz verloren, ihr Anblick war erschreckend. Nicht der Dreck, die Müdigkeit oder die Kraftlosigkeit versetzte Annas Herzen einen Stich, sondern die Gewissheit in ihrem Ausdruck, der sie wissen ließ, dass die Welt schlecht war.
»Ich verstehe immer noch nichts«, sagte ihre Mutter leise.
»Wie könntest du auch?«, antwortete sie und richtete sich auf.
»Erklär’s mir.«
Anna mochte nicht. Ihr fehlte die Kraft zum Erzählen, alles aufs Neue zu wiederholen. Die Motivation hatte sich verabschiedet, zusammen mit jedem erdenklichen Gefühl, das Hoffnung oder Glück gleichkam. Trotzdem rang sie sich dazu durch und gab die vergangenen Wochen in einer sehr verkürzten Version wieder.
Ihre Mutter hörte aufmerksam zu, streichelte ihr über den Kopf und durch das Gesicht. So vertraut gingen sie schon lange nicht mehr miteinander um. Traurig, dass sie erst durch das Erlebte wieder zueinanderfanden. Hätte es einer von ihnen nicht bis hierher geschafft, hätte der andere mit einer entsetzlichen Leere leben müssen.
Auch Mr. Cole folgte Annas Geschichte. Ihm erzählte sie nichts Neues, er hatte bereits eins und eins zusammengezählt.
»Du bist unglaublich stark, Anna«, flüsterte ihre Mutter.
»Was ist, wenn wir das Falsche tun?« Wenn sie es nicht schafften, die Fingerless aufzuhalten, starben viele Menschen.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«
Eine Weile sagten sie nichts, sondern saßen nur da. Anna fiel es schwer, auch nur einen Gedanken länger zu verfolgen. Ihre Konzentration ließ nach und langsam auch die Anspannung. Die dauernden Hochs und Tiefs ihrer Gefühlslage stimmten sie melancholisch. Es hatte mit Sebastian zu tun. Aber für einen winzigen Moment wollte sie sich einmal keine Sorgen machen. Er würde es schon schaffen, er schaffte es immer.
»Ist Sebastian dein Freund?«
Anna zuckte die Schultern. »Ich schätze, schon.«
»Er ist ein guter Junge.«
»Ich weiß. Aber das Problem ist, dass er das nicht weiß.«
»Dann musst du es ihm vor Augen führen.«
»Seid still!« Mr. Cole sprang auf und spannte die Armbrust.
Doch lediglich eine Windböe streifte die oberen Baumspitzen und ließ die Nadeln rascheln.
Trotzdem löste die Reaktion des alten Herrn etwas in ihr aus. Sie durften sich nicht in Sicherheit wiegen und gedankenlos herumsitzen. Noch immer war äußerste Vorsicht geboten. Anna stellte sich hin und befreite die Kleidung von Laub, Nadeln und Dreck. Bereit, für den sicherlich nicht letzten Part des Kampfes …
*
Eine Klinge traf Sebastians Rücken. Zorn loderte auf, wand sich in seinem Magen. Er atmete tief durch und drehte sich langsam zu dem Angreifer um. Die kleine Wunde verschloss sich. Magier besaßen stahlharte und gut heilende Haut.
Kevin!
Die zum Zerreißen gespannten Nerven hielten nicht länger stand. Er verlor die Kontrolle, seine Menschlichkeit verabschiedete sich. Blitzschnell flog seine Hand an Kevins Kehle. Mit roher Gewalt drückte er ihn an die Wand.
Er erinnerte sich an die Menschen, die ihm bereits zum Opfer gefallen waren. Nicht besonders viele und dennoch hatte ihm jeder Tod Genuss bereitet.
Ein Genuss, dem ein Magier nicht widerstehen konnte. Vanessa entfuhr ein Schrei. Marla sprang auf und versuchte, ihn mit aller Macht von Kevin wegzureißen. »Sebastian! Hör auf!«
Kevin schnappte vergeblich nach Luft, das Messer fiel ihm aus der Hand.
»Sebastian!« Jenny zog an seinem Arm.
Der Rest näherte sich nicht, verfolgte nur das gefährliche Schauspiel.
»Schluss«, rief Marla. Sie war genauso machtlos wie eine Ameise, die einen Eisbären bezwingen wollte.
»Sebastian, du tötest ihn! Du tötest Annas besten Freund!« Jenny weinte los und grub ihre Nägel in sein Fleisch.
Sebastian hielt inne. Die Worte brannten auf seiner Seele. Kevin glitt bewusstlos zu Boden. Magie und Wut schäumten durch Sebastians Venen. Er wollte töten, Kevin das Leben nehmen. Wie konnte der Mensch es wagen, ihn, den Retter, zu attackieren? So etwas sollte mit dem Tod bestraft werden. In seiner Welt wurde das bisher so gehandhabt. Der Teufel oder vielmehr der Engel in ihm sprach zischende Laute. Er wollte ihm nachgeben. Der dunklen
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