Gefährlich nah
es keinem sagen«, hatte Lauren gebrüllt und höher gezielt, sodass Scott die Arme heben musste, um seinen Hals und sein Gesicht zu schützen. »Ich werde nicht zulassen, dass du alles kaputtmachst. Ich liebe ihn. Ich wollte das nicht. Ich liebe ihn.«
»Es hat gar nicht wehgetan«, hatte Scott einmal einem Therapeuten erklärt. »Nicht in dem Augenblick. Ich habe gar nichts gespürt. Ich wusste nicht, dass ich blute oder so.«
Schock. Er war bereits in einer Art Schockzustand, was ihm vermutlich sogar das Leben gerettet hatte. Denn wenn er gewusst hätte, wie viele Schnitte es waren und
wie tief einige davon gingen, wenn er das Blut gesehen hätte und gespürt hätte, wie es nach und nach die Überreste seiner Kleidung durchtränkte und auf den Boden tropfte, dann hätte er nie das tun können, was er tat. Dee war sich tatsächlich noch immer nicht sicher, wie Scott es schließlich geschafft hatte, an Lauren vorbeizukommen und sich im Badezimmer einzuschließen. Aber er hatte es geschafft. Er hatte auch noch einen Notruf abgesetzt, aber bis die Rettungskräfte eintrafen, war er schon ohnmächtig geworden, und sie mussten die Tür einschlagen, um zu ihm zu gelangen. Lauren war da natürlich schon weg. Die Polizei hatte sie erst zwei Tage später in Heathrow aufgegriffen.
»Hey.«
Jemand redete mit ihr. Nicht dort, sondern hier, jetzt, in der Gegenwart. Sanjay. Er hielt die Autotür auf.
»Willst du, dass ich noch hierbleibe?«, fragte er. »Und dir helfe, ihn reinzubringen?«
Sie nickte, schluckte und drängte die Tränen zurück. Sie hatte jetzt keine Zeit zu weinen. Sie musste sich um Scott kümmern und Gran und Granddad berichten, was geschehen war. Und dann war da noch Dad. Wie zum Teufel sollte sie das bloß alles schaffen?
ELF
Es war eiskalt, und zwar buchstäblich. Hazel rieb mit dem Fuß über das Eis auf einer Pfütze, während sie am Montag in der Mittagspause vor Mrs Mitchells Abteilung darauf wartete, dass Dee herauskam. Es war die dritte Schulwoche nach den Ferien und Scott war gerade erst wieder in der Schule. Kaum verwunderlich nach all dem, was geschehen war, und in welcher Verfassung Scott gewesen war.
Hazel bohrte ihren Absatz ins Eis, durchbrach es und beobachtete, wie es splitterte. Es war beinahe unglaublich, was Dee ihnen inzwischen erzählt hatte - über Lauren. Wie etwas aus einem Horrorfilm. Etwas, das im wirklichen Leben und wirklichen Menschen eigentlich nicht passierte oder jedenfalls nicht passieren sollte. Aber es geschah. Öfter als man dachte, hatte Dee gesagt.
»Und wie läuft’s?«, fragte Hazel, als Dee erschien.
»Er kommt klar«, sagte Dee. »Mrs Mitchell ist super, nicht wahr? Er bleibt wahrscheinlich die ganze Woche bei ihr in der Abteilung und wird dann langsam wieder in die Unterrichtsstunden integriert. Es ist Mist, aber …«
»Was?«
»Keine Ahnung«, sagte Dee. »Es war nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte, schätze ich mal. Dass jetzt alles
bekannt ist und so. Ich meine, alle haben total gut reagiert - Lehrer, Freunde. Und auch zu Hause. Hab ich dir erzählt, dass Dad Scott zu seiner eigenen Therapeutin mitgenommen hat?«
Hazel schüttelte den Kopf, während sie gemeinsam über den Schulhof gingen.
»Sie arbeitet normalerweise eigentlich nicht mit Kindern. Keine Ahnung, warum. Aber sie war genial für Dad, und deswegen hat er sie überredet, dass Scott auch zu ihr kommen kann. Ich meine, das alleine war schon toll, dass Dad sich überhaupt aufraffen konnte, das zu fragen.«
»Und hat es was gebracht?«, fragte Hazel.
»Ich glaube schon«, meinte Dee. »Dad hat es noch mehr geholfen als Scott. Aber er geht da ja auch schon länger hin. Es ist alles sehr langsam, aber ich glaube, dass es der Therapeutin zu verdanken ist, dass Scott wieder zur Schule geht. Also, ja, er macht Fortschritte.«
Meinte Dee wirklich ernst, was sie da sagte, oder versuchte sie nur, alles positiv zu sehen? Sie hatten noch immer nicht herausgefunden, wie die Geschichte eigentlich genau in Umlauf gekommen war, aber als die Schule im neuen Jahr wieder anfing, war es offensichtlich, dass eine ganze Menge Leute Bescheid wussten. Hazel hatte Abbie anrufen und sie direkt fragen wollen, ob das Gerücht bei ihr angefangen hatte, aber Dee hatte es nicht gewollt.
»Vielleicht war es ja gar nicht Abbie«, hatte Dee gesagt. »Jeder könnte die Geschichte irgendwo im Internet oder so ausgegraben haben, oder?«
Wer’s glaubt! Also hatte Hazel Dees Wunsch missachtet
und hinter ihrem
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