Gefaehrliche Begierde
von Rhythmus und Noten bilden. Etwas, das sie sich Vorsingen konnte, wenn sie nachts auf ihrer Pritsche lag und dem Gefängnisflüstern rund um sich lauschte. Ein kleiner Trost an einem rauen Ort.
Tania nannte ihre musische Begabung Genialität. Bewunderte ihre Fähigkeit, irgendein Instrument in die Hand zu nehmen und es in weniger als zwei Wochen zu erlernen. J.J. war da anderer Meinung. Ihr Talent war nichts Besonderes. Einfach ganz normal in einem Leben, das nur aus
Routine bestand. Höchstens so lala, aber wenigstens leisteten ihre Songs ihr Gesellschaft.
J.J. summte die Melodie und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. Dürftige Wärme streichelte ihre Haut und lud sie ein, stehenzubleiben und mehr davon in sich aufzusaugen. Stattdessen bewegte sie sich aber weiter, schlurfte über das abgetretene Pflaster entlang des stacheldrahtbewehrten Maschendrahtzauns zu ihrer Linken, der offene Gefängnishof zu ihrer Rechten. Tagein, tagaus. Es war immer dasselbe. Sie hielt fest an ihrem Weg, an der gleichmäßigen Routine, die sie aufrechterhielt.
Heute ging es allerdings nicht nur ums Überleben. Oder um das selbst auferlegte Exil ins Land der Einsamkeit. Es ging um Strategie. Um die Vorbereitung auf das, was auf sie zukam.
Erregung kitzelte sie. Nervosität erinnerte sie daran, dass bei aller Hoffnung auch Vorsicht geboten war. Sie konnte es sich nicht leisten, es zu verderben. Aber genauso wenig durfte sie zu sehr hoffen. Darin lag die Gefahr von Enttäuschung als Hauptgericht an dem Esstisch, der sich Leben nannte.
J.J. zog die Schultern in ihrer Gefängnisjacke ein und ging weiter, behielt ihre regelmäßige Gangart bei. Runde für Runde legte sie zurück, eine ging in die andere über. Gitarrennoten und Trommelschläge verschmolzen, während sie in Gedanken die verschiedenen Möglichkeiten durchspielte. All die Fragen durchging, die der Bewährungsausschuss ihr stellen könnte. Und wie sie sie beantworten würde.
Sie beendete ihre fünfte Runde und ignorierte das de-primierende Grau der eingezäunten Fläche. Zusammengedrängt standen die Insassen in der Mitte des großen Hofs, die Hände tief in ihren Hosentaschen, Wollmützen auf dem Kopf gegen die Kälte. Ihre Stimmen stiegen auf und prallten aufeinander, klangen eher wie schnatternde Vögel als wie erwachsene Frauen, die sich unterhielten. Der mentale Schnappschuss führte bei J.J. dazu, sich eine Schar Flamingos vorzustellen, die auf einem Bein in einem Teich standen. Das laute Geräusch wäre ungefähr vergleichbar. Vogel- gegen Frauenschnattern, was war der wirkliche Unterschied? Die Farbe und die Tatsache, dass Flamingos die Freiheit hatten, wegzufliegen.
Wann immer sie wollten.
J.J. nickte einer Gruppe, mit der sie freundschaftlichen Umgang pflegte, zu und ging weiter, blickte wieder gen Himmel, betete die Sonne an, stellte sich einen Moment lang vor, dass sie ...
Frei war.
Einen Nachmittagsbummel in der Innenstadt von Seattle machte. Einen Schaufensterbummel statt festzusitzen... hier drinnen. Die Vorstellung hatte einen starken Sog. Aber die Sehnsucht, die mit ihr einherging? Die war eher noch stärker.
Ein Monat. Nur dreißig Tage - armselige siebenhundertzwanzig Stunden - und es würde möglicherweise wahr werden.
Möglicherweise war allerdings ein ziemlich großes Wort, nicht wahr? Es ließ so vieles offen... in der Luft schwebend, was die Frage in ihr aufwarf, welchen Weg Vater Chance sie einschlagen ließ, wenn ihre Zeit kam. Ah ja,
Hoffnung... eine äußerst gefährliche Sache. Eine große Illusionistin mit zu vielen Tricks im Ärmel. Taschenspielereien waren jedoch das Geringste ihrer Probleme, und Glaube das größte. Sie erkannte eine Fata Morgana - einen Wunschtraum -, wenn sie sie vor sich hatte.
Und dennoch konnte sich J.J. dieser Verlockung nicht entziehen. Ließ nicht zu, dass die Realität ihre Seifenblase zerplatzen ließ und ihre Träume zerstörte. Sie wollte nicht vernünftig sein. Den Fakten ins Gesicht sehen und zugeben, dass ihre Chancen auf Bewährung gering waren. Sie wollte träumen, wenn auch nur für eine kleine Weile. Und während sich ihre Niedergeschlagenheit zu Unbeschwertheit wandelte, veränderte sich ihre düstere Gefühlslage zu lichtdurchflutet und beschwingt.
Ihre Lippen verzogen sich leicht an den Mundwinkeln. Verrückt. Absolut unzurechnungsfähig.
Aber oh, die Möglichkeiten. Tra-la-la-la-la.
J.J. musste über ihre eigene Dummheit lachen.
»Was ist denn so lustig, Rothaut?«
Kaum mehr als ein
Weitere Kostenlose Bücher