Gefährliche Begierde
drohte.
Sie blieb stehen und starrte ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Hol’ dich der Teufel! dachte sie. Wer auch immer du bist, sieh mich gut an! Sieh dir die Mörderin ganz genau an! Zufrieden?
Die Augen, die auf sie hinab starrten, waren dunkel wie die Hölle und hart vor Missbilligung. Doch als sie sich in die Augen blickten, sah Miranda noch etwas anderes darin aufflackern; eine Spur von Ungewissheit, beinahe Verwirrung. So als ob das, was er sah, falsch war, als ob das Bild, das er sich gemacht hatte, nicht zu der Bildunterschrift passte.
Weiter hinten im Korridor schwang eine Tür auf. Man hörte Schritte, bis es auf einmal wieder still war.
»O Gott!« flüsterte eine Stimme. Miranda drehte sich um.
Evelyn Tremain stand wie erstarrt in der Tür, die zu den Waschräumen führte.
»Chase«, flüsterte sie. »Das ist sie …«
Sofort war er bei ihr und reichte ihr seinen stützenden Arm. Evelyn umklammerte ihn mit beiden Händen, als sei er ihr einziger Strohhalm. »Oh, bitte«, murmelte sie hilflos.
»Ich kann es nicht ertragen, sie anzusehen.«
Miranda bewegte sich nicht. Ihr schlechtes Gewissen lähmte sie. Was hatte sie dieser Frau und ihrer Familie bloß angetan? Auch wenn ihr Verbrechen nicht aus einem Mord bestand, so hatte sie sich doch immerhin gegen Evelyn versündigt, und das würde sie ewig büßen.
»Mrs. Tremain«, sagte sie leise. »Es tut mir Leid …«
Evelyn vergrub ihr Gesicht an der Schulter des Mannes.
»Chase, bitte. Lass uns hier weg.«
»Er liebte Sie«, erklärte Miranda. »Ich möchte, dass Sie das wissen. Ich will, dass Sie wissen, dass er nie aufgehört hat, Sie zu lieben …«
»Bringen Sie sie weg!« brüllte Evelyn.
»Officer«, sagte Chase ruhig. »Bitte bringen Sie sie weg.« Officer Snipe packte Miranda am Arm. »Gehen wir.« Während man sie abführte, rief Miranda über ihre Schulter zurück: »Ich habe ihn nicht umgebracht, Mrs. Tremain! Das müssen Sie mir glauben …«
»Du Flittchen!« schrie Evelyn. »Du dreckige Hure! Du hast mein Leben ruiniert.«
Als Miranda sich umdrehte, sah sie, dass die andere Frau sich losgemacht hatte und ihr hinterher blickte wie ein Racheengel. Ein paar blonde Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr über das immer schon blasse Gesicht, das nun kreidebleich geworden war.
»Du hast mein Leben zerstört!« brüllte Evelyn.
Ihr anklagender Schrei hallte Miranda den ganzen Weg bis zur Gefängniszelle in den Ohren.
Widerstandslos betrat sie ihre Zelle. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, stand sie da wie zur Salzsäule erstarrt. Die Schritte des Officers entfernten sich. Sie war alleine und gefangen in diesem Käfig. Plötzlich hatte Miranda das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie nicht sofort frische Luft atmen könnte. Sie kroch zu dem schmalen Fenster und versuchte, sich an den Gitterstäben hochzuziehen, aber es war zu hoch. Sie rannte zur Liege, schleifte sie quer durch die Zelle und stellte sich schließlich drauf. Doch auch so war sie kaum groß genug, um über das Fensterbrett zu gucken und einen tiefen Atemzug vom verlockenden Geschmack der Freiheit zu nehmen. Draußen schien die Sonne. Jenseits des Gefängnishofs entdeckte sie Ahornbäume, Dächer und ein paar am Himmel schwebende Möwen. Wenn sie tief genug inhalierte, konnte sie fast das Meer riechen. Wie schön das war! Wie unerreichbar! Sie umklammerte die Gitterstäbe fest, bis sie sich in die Handflächen gruben. Dann presste sie ihr Gesicht gegen das Fensterbrett und versuchte mit geschlossenen Augen, die Fassung zu bewahren und ihre Panik unter Kontrolle zu halten.
Ich bin unschuldig. Sie müssen mir glauben
, dachte sie. Und dann:
Was, wenn sie es nicht tun?
Nein verdammt! Denk nicht daran.
Sie zwang sich, sich auf andere Gedanken zu bringen. Sie dachte an den Mann im Korridor, den Mann bei Evelyn Tremain. Wie hatte Evelyn ihn genannt? Chase. Der Name erinnerte sie an etwas; Miranda hatte ihn schon einmal gehört. Voller Hoffnung hielt sie sich an dieser irrelevanten Gedankenübung fest und konzentrierte sich darauf, ihre Erinnerung zu durchforsten. Hauptsache, sie vertrieb die Ängste aus ihrem Kopf. Chase. Chase. Irgendwer hatte ihn schon einmal neulich erwähnt. Sie versuchte, sich die Stimme vorzustellen, um sie mit der Äußerung des Namens in Verbindung zu bringen.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Es war Richard, der ihn erwähnt hatte. Ich habe meinen Bruder seit Jahren nicht mehr gesehen. Wir hatten einen heftigen Streit, als
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