Gefährliche Begierde
aussah, als hätte er ein doppeltes Jahresgehalt gekostet, spielte an dem Verschluss seiner ledernen Aktenmappe herum.
»Sie sollten den Saal räumen lassen«, knurrte Noah DeBolt. »Wer zum Teufel hat all diese Zuschauer hereingelassen? Ich würde das als ein Eindringen in die Privatsphäre bezeichnen.«
»Es ist eine öffentliche Anhörung, Daddy«, entgegnete Evelyn schwach.
»Es gibt Zuschauer und Zuschauer. Diese Leute gehören hier nicht hin. Es geht sie verdammt noch einmal gar nichts an.« Noah erhob sich und winkte, um Lornes Aufmerksamkeit zu erlangen, aber das mit Brillantine geglättete Haupt des Polizeichefs rührte sich nicht. Noah blickte sich nach einem Justizbeamten um, doch der Mann verschwand durch die Seitentür. Frustriert setzte Noah sich wieder hin. »Ich weiß nicht, was aus dieser Stadt noch werden soll«, brummte er. »All diese neuen Leute. Kein Gefühl mehr für das richtige Maß.«
»Ruhig, Daddy«, murmelte Evelyn, bevor sie vor Wut schäumend fragte: »Wo sind die Kinder? Warum sind sie nicht hier? Ich will, dass der Richter sie sieht. Die armen vaterlosen Zwillinge.«
Noah schnaubte. »Sie sind erwachsen und werden niemanden mehr beeindrucken.«
»Da hinten sind sie«, sagte Chase, als er Cassie und Phillip ein paar Reihen weiter entdeckte. Sie waren wohl erst später mit den anderen Zuschauern hereingeschlüpft.
Also, das Publikum ist bereit
, dachte er.
Jetzt brauchen wir nur noch die beiden Hauptdarsteller: den Richter und die Angeklagte.
Kaum hatte er das gedacht, öffnete sich wie auf Stichwort die Seitentür. Der Hüne von einem Justizbeamten erschien. Seine Hand umklammerte den Arm der viel kleineren Gefangenen.
Nach seinem zweiten Blick auf Miranda Wood war Chase überrascht darüber, wie viel blasser sie ihm jetzt erschien. Und viel zerbrechlicher. Sie reichte dem Justizbeamten gerade eben bis zur Schulter. Sie trug einen unauffälligen blauen Rock und eine einfache weiße Bluse, ein Outfit, zu dem ihr ohne Zweifel der Anwalt geraten hatte, um sie unschuldig erscheinen zu lassen, was auch gelang. Ihr Haar war sauber und ordentlich zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. So sah kein lüsterner mordender Vamp aus. Sie trug weder Schmuck noch Make-up. Ihre Wangen waren auch ohne Gesichtspuder blass.
Auf dem Weg zum Tisch des Verteidigers, blickte sie nur einmal in die Menge. Dabei hatte sie kurz Augenkontakt mit Chase, doch in diesen wenigen Sekunden spürte er ihre fragile Verfassung. Zwar sah er den Stolz auf ihrem Gesicht und doch bildete er sich ein, ihre Körpersprache deuten zu können: der gerade Rücken, das hoch erhobene Kinn. Jeder andere hier im Raum würde es ebenfalls bemerken und ihr den vermeintlichen Hochmut übelnehmen. Dreiste Mörderin, würden sie denken, eine Frau ohne Scham und Reue. Er wünschte, er würde dasselbe über sie denken. Das würde ihre Schuld wahrscheinlicher und ihre Bestrafung gerechter erscheinen lassen.
Doch er wusste, was sich hinter ihrer Maske verbarg. Er hatte es vor zwei Tagen in ihren Augen gesehen, als sie ihn durch den Einwegspiegel unwissentlich angesehen hatte. Es war die nackte Angst gewesen!
Und sie war zu stolz, es sich anmerken zu lassen.
Ab dem Moment, als Miranda den Gerichtssaal betrat, wirkte nichts mehr wirklich. Ihre Füße und Beine waren taub, und sie war beinahe dankbar für den festen Griff, mit dem der Justizbeamte ihren Arm packte, als sie durch die Seitentür eintraten. Sie sah die Gesichter des Publikums wie durch ein Kaleidoskop – falls man die Zuschauer in einem Gerichtssaal als Publikum bezeichnen konnte. Doch wie sollte man sie sonst nennen? Sie waren da, um ihren Auftritt zu verfolgen, ein Theaterstück aus ihrem Leben. Die eine Hälfte von ihnen war gekommen, um sie hängen zu sehen, die andere aus Sensationslust. Während sie den Blick langsam durch den Saal streifen ließ, entdeckte sie bekannte Gesichter. Da saßen zum Beispiel ihre Kollegen vom Herald: die geschäftsführende Redakteurin Jill Vickery, schneidig und professionell bis in die Haarspitzen, und die Reporter, Annie Berenger und Ty Weingart, beide im typisch schlampigen Schreiberlook. Es war schwer zu sagen, ob sie als Freunde gekommen waren, falls man sie jemals als Freunde bezeichnen konnte. Alle trugen einen vorsichtig neutralen Gesichtsausdruck zur Schau.
Mirandas Blick wanderte weiter und machte ein einziges freundliches Gesicht in der Menge aus – den alten Herrn Lanzo, ihren Nachbarn von nebenan. Stumm formte er mit den
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