Gefährliche Begierde
Blicken vieler Augenpaare vorbei durch den Saal begleiten. Sie blieb nur einen Moment lang stehen, um Chase Tremain einen Blick über ihre Schulter zuzuwerfen. Als ihre Blicke sich trafen, dachte sie für einen kurzen Moment, sie sähe etwas darin aufflackern, das sie vorher nicht gesehen hatte. Doch es war genauso schnell wieder verschwunden.
Mit den Tränen kämpfend, wandte sie sich um und folgte dem Justizbeamten durch die Seitentür. Zurück ins Gefängnis.
»Das wird sie eine Weile hinter Gittern halten«, sagte Evelyn.
»Einhunderttausend?« Chase schüttelte den Kopf. »Das klingt so unmöglich nicht.«
»Nicht für uns, vielleicht. Aber für jemanden wie sie?« schnaubte Evelyn. Der befriedigte Ausdruck, der sich auf ihrem makellos zurechtgemachten Gesicht abzeichnete, hatte etwas Ungehöriges. »Nein. Nein, ich glaube Ms. Miranda Wood wird genau da bleiben, wo sie auch hingehört. Hinter Gitter.«
»Sie hat sich keinen Millimeter bewegt«, sagte Lorne Tibbetts. »Wir befragen Sie nun bereits seit einer Woche, aber sie bleibt bei ihrer Version.«
»Das macht nichts«, erwiderte Evelyn. »Fakten sind Fakten. Die kann sie nicht widerlegen.«
Sie saßen draußen auf Evelyns Veranda. Die Hitze hatte sie an diesem Morgen aus dem Haus gejagt, weil die durch die Fenster hereinströmende Sonne die Zimmer in einen Backofen verwandelt hatte. Chase hatte diese heißen Augusttage vergessen. In seiner Erinnerung war Maine immer kühl und immun gegen das Elend des Sommers gewesen. Soviel zum Thema Kindheitserinnerungen. Er schenkte sich ein weiteres Glas Eistee ein und gab den Krug an Tibbetts weiter.
»Also, was denken Sie, Lorne?« fragte Chase. »Haben Sie genug, um sie zu überführen?«
»Vielleicht. Doch es gibt Beweislücken.«
»Welche?« wollte Evelyn wissen.
Chase wunderte sich, wie kühl und beherrscht sie wirkte; genauso wie er sich aus ihrer Kindheit an sie erinnerte. Evelyn, die Eiskönigin.
»Da ist zum Beispiel die Sache mit den Fingerabdrücken«, sagte Tibbetts.
»Was meinen Sie damit?« fragte Chase. »Waren keine auf dem Messer?«
»Das ist das Problem. Der Messergriff wurde abgewischt, und das ergibt für mich nun keinen Sinn. Sehen Sie, auf der einen Seite haben wir ein Verbrechen aus Leidenschaft. Sie benutzt ihr eigenes Messer. Pure Impulshandlung. Aber warum macht sie sich die Mühe, die Fingerabdrücke abzuwischen?«
»Sie muss wohl schlauer sein, als Sie denken«, meinte Evelyn Nase rümpfend. »Sie hat Sie bereits durcheinander gebracht.«
»Nein, das passt einfach nicht zu einem Impulsmord. Außerdem hat sie hat den Lügendetektortest bestanden.«
»War sie verpflichtet, sich ihm zu unterziehen?« wollte Chase wissen.
»Im Gegenteil: Sie bestand darauf. Es hätte ihren Fall nicht verschlimmert, wenn sie durchgefallen wäre. Aber so verbessert es ihre Position etwas. Auch wenn der Test nicht als zuverlässiges Beweismittel gilt.«
»Also, warum sollte es dann Ihre Meinung ändern?«
fragte Evelyn jetzt.
»Tut es nicht. Es stört mich nur.«
Chase starrte aufs weite Meer hinaus. Auch er war irritiert. Nicht von den Fakten, sondern von seinen eigenen Instinkten.
Logik und Beweise sagten ihm, dass Miranda Wood die Mörderin war. Doch warum fiel es ihm so schwer, daran zu glauben?
Die Zweifel hatten vor einer Woche begonnen, auf dem Gang der Polizeistation. Er hatte das ganze Verhör beobachtet und gehört, wie sie alles abgestritten hatte; ihre stereotypen Erklärungen. Er hatte nicht geschwankt, aber als sie sich im Korridor Auge in Auge gegenübergestanden hatten und sie ihm direkt in die Augen sah, hatte er die ersten Anflüge des Zweifels gespürt. Hätte eine Mörderin seinen Blick so unerschrocken erwidert? Wäre sie einem Ankläger mit dieser Courage begegnet? Selbst als Evelyn aufgetaucht war, hatte Miranda sich nicht versteckt. Stattdessen hatte sie etwas sehr Unerwartetes gesagt. Er liebte Sie. Ich will, dass Sie das wissen. Von allen Dingen, die eine Mörderin möglicherweise gesagt haben könnte, war das das Überraschendste. Es war ein Akt der Liebenswürdigkeit, ein aufrichtiger Versuch, die Witwe zu trösten. Es brachte ihr keine Punkte, auch nicht vor Gericht. Sie hatte einfach vorbeigehen und Evelyn ignorieren, sie ihrer Trauer überlassen können. Stattdessen hatte Miranda ihr Mitleid für die andere Frau ausgedrückt.
Chase verstand das nicht.
»Keine Frage, dass die Beweislage gegen sie spricht«, sagte Tibbetts. »Der Richter dachte offensichtlich so.
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