Gefährliche Begierde
sie dich verwirren würde, Chase. Ich wusste es einfach. Du verstehst sie nicht auf die Art, wie ich es tue.«
Chase sah vom Verandastuhl hoch, wo er in der letzten Stunde grübelnd gesessen hatte. Er bemerkte, dass Evelyn ihr schwarzes Kleid gegen ein unanständig leuchtendes, limonen-grünes eingetauscht hatte. Er wusste, dass ihm seine Schwägerin Leid tun sollte, aber im Moment sah Evelyn so aus, als ob sie eher einen ordentlichen Drink als sein Mitleid benötigte. Er konnte sich nicht helfen, aber er verglich sie mit Miranda Wood. Miranda mit ihrem schlechtsitzenden schwarzen Kleid und den vom Wind zerzausten Haaren, so alleine auf diesem Friedhofshügel. Er fragte sich, ob Richard je gewusst hatte, wie sehr er ihr geschadet hatte und ob ihn das überhaupt interessiert hätte.
»Du hast noch kein Wort gesprochen, seit du wieder zu Hause bist«, beschwerte sich Evelyn. »Was ist bloß los mit dir?«
»Wie gut kennst du Miranda Wood?« fragte er.
Sie saß da und legte übereifrig die Falten ihres grünen Kleids zurecht. »Ich habe ein paar Dinge gehört. Sie wuchs in Bass Harbour auf. Ging auf eine … eine staatliche Universität. War auf Stipendien angewiesen, weil sie es sich anders nicht hätte erlauben können. Wirklich keine gute Familie.«
»Was heißt das?«
»Fabrikarbeiter.«
»Ah, der Bodensatz der Welt.«
»Was ist denn mit dir los, Chase?«
Er erhob sich. »Ich muss einen Spaziergang machen.«
»Ich komme mit dir.« Sie erhob sich ebenfalls, wobei die ganzen hübsch zurechtgelegten Falten ihres Kleids sofort wieder auseinander fielen.
»Nein. Ich würde lieber eine Weile alleine sein, falls es dir nichts ausmacht.«
Evelyn sah so aus, als machte es ihr eine ganze Menge aus, aber sie schaffte es, diesen Umstand elegant zu verbergen. »Ich verstehe, Chase. Wir müssen alle auf unsere eigene Art trauern.«
Er spürte eine gewisse Erleichterung, als er sich von dieser Veranda entfernte. Das Haus hatte begonnen, in zu bedrücken, so als ob das Gewicht der Erinnerungen, die ihn ihm steckten, sich in der Luft ausgebreitet hätte. Eine halbe Stunde lang wanderte er ziellos umher. Erst als seine Füße ihn an die Stadtgrenze herangetragen hatten, begann er sich zielgerichtet zu bewegen.
Er ging direkt auf das Verlagsgebäude zu.
Jill Vickery, die schneidige und attraktive Chefredakteurin, begrüßte ihn. Es sah Richard ähnlich, sich mit wunderbaren Frauen zu umgeben. Chase war ihr an diesem Tag bereits bei der Beerdigung begegnet. Dort, wie auch jetzt, spielte sie ihre professionelle Rolle perfekt.
»Mr. Tremain«, sagte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Welch ein Vergnügen, Sie wieder zu sehen. Darf ich Ihnen den Verlag zeigen?«
Ohne zu antworten, schaute er sich in der Redaktion um, die im Moment offenbar nur von einem geringen Teil der Mannschaft besetzt war; ein paar Leute aus der Grafik, jemand, der unverwandt auf den Bildschirm seines Computers starrte, und diese schlampige Reporterin, die eine Zigarette rauchte, während sie telefonierte.
»Ich würde mir gern ein paar der Unterlagen meines Bruders ansehen«, sagte Chase schließlich.
»Geschäftliche oder private?«
»Beides.«
Sie zögerte, führte ihn dann aber über die Flure zu einem Büro, an dessen Tür stand: Richard Tremain, Verleger. »Sie verstehen, dass dies nicht alle seine Unterlagen sind. Die meisten bewahrte er hier auf, aber manche hatte er auch zu Hause oder im Cottage.«
»Sie meinen Rose Hill?«
»Ja. Er mochte es, gelegentlich da draußen zu arbeiten.« Sie deutete auf den Schreibtisch. »Der Schlüssel ist in der oberen Schublade. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas mitnehmen wollen.«
»Das hatte ich nicht vor.«
Sie machte eine Pause, so als sei sie unsicher, ob sie ihm vertrauen sollte. Doch hatte sie eine andere Wahl? Er war immerhin der Bruder des Verlegers. Schließlich wandte sie ihm ihren Rücken zu und ließ ihn alleine.
Chase wartete, bis sich die Tür hinter ihr schloss, und dann öffnete er den Aktenschrank. Er blätterte sofort bei W nach und fand Miranda Woods Unterlagen.
Chase trug sie zum Schreibtisch und schlug sie auf. Wie sich herausstellte, handelte es sich lediglich um eine normale Personalakte. Die Bewerbung war gut ein Jahr alt. Miranda war damals achtundzwanzig gewesen. Als Adresse war die Willow Street Nr. 18 angegeben. Auf dem beiliegenden Foto lächelte Chase eine zuversichtliche junge Frau entgegen, deren ganzes Leben noch vor ihr lag. Es tat ihm beinahe
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