Gefährliche Begierde
Gesichtern. Sie spürte, wie man sie hinter den Schaufenstern anstarrte und sah, wie sie in Grüppchen zusammenfanden und miteinander tuschelten. Keiner von ihnen kam auf sie zu. Niemand richtete das Wort an sie. Das mussten sie auch nicht. Was mir noch fehlt, dachte sie, ist ein auf meiner Brust angenähter, scharlachroter Buchstabe. M für Mörderin.
Sie richtete ihren Blick nach vorne und ging die Limerock Street hinauf. Das Verlagsgebäude des Herald ragte vor ihr auf, ein Wall aus Ziegeln und Schiefer, der ihr Schutz vor neugierigen Blicken bot. Sie huschte durch die Doppelglastüren in den Nachrichtenraum hinein.
Drinnen schien plötzlich alles stillzustehen.
Miranda sah sich einem Bombardement überraschter Blicke ausgesetzt.
»Hallo, Miranda«, ertönte eine kühle Stimme.
Miranda wandte sich um. Jill Vickery, die Chefredakteurin, kam aus ihrem Büro geschlichen. Sie trug immer noch dieselbe Kleidung wie bei der Beerdigung. An der schwarzhaarigen Jill Vickery mit dem elfenbeinfarbenen Teint sah Schwarz sehr elegant aus. Ihr kurzer Rock rieb an ihren Strümpfen, als sie quer durch den Raum stolzierte.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?« fragte Jill sie freundlich.
»I… Ich bin gekommen, um meine Sachen abzuholen.«
»Ja, klar.« Jill warf den gaffenden Mitarbeitern einen missbilligenden Blick zu. »Arbeiten wir alle so effizient, dass wir nichts mehr zu tun haben?«
Betreten konzentrierten sich die Angesprochenen wieder auf ihre Arbeit, und Jill sah erneut zu Miranda. »Ich habe mir bereits erlaubt, deinen Schreibtisch auszuräumen. Es ist alles unten in einer Kiste.«
Miranda war Jill dankbar für diesen Akt der Höflichkeit, die sie ihr erwies, dass sie kaum Verärgerung darüber verspürte, dass ihr Schreibtisch so kaltblütig geleert worden war.
»Ich habe auch noch ein paar Dinge in meinem Spind.«
»Die müssten noch da sein. Hol sie dir einfach.« Die Stille, die darauf folgte, schien für beide schwer auszuhalten. »Ich wünsche dir Glück«, sagte Jill schließlich. »Egal was passiert.« Dann kehrte sie in ihr Büro zurück.
»Jill?«, rief Miranda hinter ihr her.
»Ja?«
»Ich frage mich, was mit dem Artikel über Tony Graffam geschehen ist. Warum habt ihr ihn nicht gebracht?«
Jill musterte sie mit echter Verblüffung. »Was spielt das für eine Rolle?«
»Nur so.«
Jill zuckte mit den Achseln. »Es war Richards Entscheidung. Er zog die Geschichte zurück.«
»Richard? Aber er hat Monate daran gearbeitet.«
»Ich kann dir seine Gründe nicht nennen. Ich kenne sie nicht. Er zog sie einfach zurück. Und außerdem glaube ich nicht, dass er die Geschichte wirklich geschrieben hat.«
»Aber er hat zu mir gesagt, sie sei so gut wie fertig.«
»Ich habe seine Unterlagen überprüft.« Damit wandte Jill sich ab und ging auf ihr Büro zu. »Ich bezweifle, dass er jemals über die Recherche hinausgekommen ist. Du weißt doch, wie er war, Miranda. Ein Meister der Übertreibung.« Verwirrt starrte Miranda ihr hinterher. Ein Meister der Übertreibung. Es tat weh, es zugeben zu müssen, aber an dieser Behauptung war eine Menge Wahres.
Die Leute begannen erneut, sie zu beobachten.
Sie ging die Treppen hinunter und schob sich in die Damen Lounge zu ihrem Spind, wo sie auf Annie Berenger stieß, die sich gerade ihre Sportschuhe zuband. Annie trug ihre übliche ausgebeulte Cargohose mit Gummizug und ein ungebügeltes Baumwollhemd. In ihrem Schrank sah es genauso unordentlich aus. Da türmte sich ein Berg aus zerknüllten Kleidungsstücken, Handtüchern und Büchern.
Annie schaute hoch und begrüßte sie mit einem Kopfnicken. »Du bist zurück.«
»Nur, um meine Sachen zu holen.« Miranda fand den Karton mit ihren Unterlagen in eines der unteren Regale gestopft und zog ihn heraus.
»Ich habe dich bei der Beerdigung gesehen«, sagte Annie. »Das erforderte Mumm, Mensch.«
»Ich weiß nicht, ob Mumm dafür das richtige Wort ist.« Annie schob ihre Spindtür zu und stieß erleichtert Luft aus. »Endlich bequem. Ich musste einfach aus diesem Beerdigungsfummel herauskommen. Ich kann in diesen blöden hochhackigen Schuhen nicht denken. Das unterbricht irgendwie die Blutzufuhr zu meinem Gehirn.« Sie band sich den letzten Schnürsenkel zu. »Also, was geschieht jetzt als nächstes? Mit dir, meine ich?«
»Keine Ahnung, ich weiß es nicht. Ich weigere mich, über den nächsten Tag hinaus zu denken.« Miranda begann nun, auch ihre anderen Habseligkeiten aus dem schmalen Schrank in die Kiste
Weitere Kostenlose Bücher