Gefährliche Begierde
der Veranda vor dem Haus.
»Guten Morgen, Chase. Ist Evelyn fertig?«
»Ich glaube schon. Kommen Sie herein, Sir.«
Das Sir schlüpfte ihm automatisch heraus. Er konnte diesen Mann einfach nicht beim Vornamen nennen. Alles an Noah verstrahlte eine unbezwingbare Autorität, von der aufrechten Haltung in dem eleganten Maßanzug bis zu den eisblauen Augen.
Noah blieb im Foyer stehen und sah sich kritisch im Haus um. »Es wird Zeit, dass wir hier einiges verändern. Eine neue Couch, neue Sessel. Evelyn musste es lange genug mit diesen alten Möbeln aushalten.«
»Das waren die Lieblingsmöbel meiner Mutter«, sagte Chase. »Antiquitäten …«
»Ich weiß, was zum Teufel das ist. Plunder.« Noahs Blick richtete sich auf die Zwillinge, die ihn durch die geöffnete Tür anstarrten. »Was? Seid ihr beide etwa immer noch beim Frühstück? Los, kommt! Es ist halb neun! Bei den Gebühren, die die Anwälte erheben, wollen wir uns natürlich nicht verspäten.«
»Wirklich Mr. DeBolt«, sagte Chase. »Ich kann uns alle zum Anwalt fahren. Sie hätten sich die Mühe nicht machen müssen …«
»Evelyn bat mich zu kommen«, erklärte Noah. »Und die Wünsche meiner Tochter sind mir Befehl.« Er schaute zum oberen Treppenabsatz hinauf. Evelyn war gerade am Geländer aufgetaucht. »Ist es nicht so, mein Schatz?«
Mit hoch erhobenem Kopf stieg Evelyn die Treppenstufen hinunter. Es war das Erste, das Chase an diesem Morgen von ihr sah. Kein Zittern war zu spüren, keine alkoholbedingte Unkonzentriertheit. Sie wirkte kühl und unangreifbar. »Hallo, Papa«, sagte sie, als sie unten angekommen war.
Noah umarmte sie. »Und nun«, sagte er, »lasst uns gehen und dieses unerfreuliche Geschäft erledigen.«
Sie fuhren in Noahs Mercedes. Evelyn und ihr Vater saßen vorne, Chase drängte sich mit den Zwillingen auf der Rückbank. Er fragte sich, wie Richard es die letzten Jahre nur ausgehalten hatte, mit diesem tyrannischen Schwiegervater in derselben Stadt zu leben. Doch der Preis, den man dafür zahlte, mit Noah DeBolts einzigem Kind verheiratet zu sein, bestand wohl aus ewiger Kritik und darin, ständig unter Beobachtung zu stehen. Wie froh musste Noah sein, jetzt, wo Richard tot war, das Leben seiner Tochter wieder unter Kontrolle zu haben?
Vor der Kanzlei hielten sie an, und Noah führte Evelyn am Arm in das Gebäude.
»Mrs. Tremain möchte Les sehen«, sagte Noah. »Wir sind hier, um das Testament zu besprechen.«
Die Rezeptionistin bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick – Chase deutete ihn als panisch – und drückte eine Taste der Telefonanlage. »Mr. Hardee«, sagte sie, »sie sind da.«
Les Hardee kam sofort aus seinem Büro. Sein Anzug und die Krawatte wiesen ihn als einen adretten Menschen aus. Der Schweiß auf seiner Stirn passte nicht in dieses Bild. »Mr. DeBolt, Mrs. Tremain«, begrüßte er sie mit einem beinahe schmerzhaften Tonfall in der Stimme. »Ich hätte Sie schon früher angerufen, aber ich habe erst jetzt … das heißt, wir …« Er schluckte. »Es scheint ein Problem mit dem Testament zu geben.«
»Doch nichts, was nicht geregelt werden könnte«, meinte Noah.
»Sicher, aber …« Hardee öffnete die Tür zum Konferenzraum. »Ich denke, wir sollten uns erst einmal alle hinsetzen.« Im Konferenzraum befand sich noch ein anderer Mann. Hardee stellte sie Vernon FitzHugh, einem Anwalt aus Bass Harbour, vor. FitzHugh sah aus wie die kämpferische Version von Hardee. Er war zwar ebenso redegewandt, wirkte aber wie einer, der Ecken und Kanten besaß, wie die Art von Mann, die hart arbeiten musste, um sich seine Ausbildung finanzieren zu können. Sie saßen alle zusammen am Konferenztisch; Hardee und FitzHugh jeweils am Kopfende.
»Also, was gibt es für ein kleines Problem mit Richards Testament?« eröffnete Noah das Gespräch. »Und was haben Sie damit zu tun, Mr. FitzHugh?«
FitzHugh räusperte sich. »Ich fürchte, ich bin der Überbringer der schlechten Nachricht. Oder in diesem Fall, eines neuen Testaments.«
»Was?« Noah wandte sich an Hardee. »Was soll der Blödsinn, Les? Sie waren Richards Anwalt.«
»Das dachte ich auch«, sagte Hardee verdrießlich.
»Wo kommt denn dann dieses andere Testament her?« Alle blickten auf FitzHugh.
»Vor ein paar Wochen«, erklärte FitzHugh, »kam Mr. Tremain in mein Büro. Er sagte, er wolle ein neues Testament aufsetzen, welches das vorher von Mr. Hardee gezeichnete Testament ersetzen sollte. Ich riet ihm, damit zu Mr. Hardee zu gehen, aber Mr.
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