Gefährliche Begierde
Sollte ihr noch niemand erzählt haben, wie naiv sie gewesen war?
»Gab es viele?« fragte sie leise.
»Ja.«
Sie wandte ihren Blick ab, als wollte sie ihren Schmerz vor seinen Augen verbergen.
»Ich … Ich glaube, ich wusste es. Ja. Ich muss es gewusst haben.«
»Er war einfach so«, sagte Chase, »Er liebte es, angehimmelt zu werden. So war er schon als Kind.«
Sie nickte. Diese Erkenntnis schien ihr nicht ganz fremd zu sein. Sie hatte seine unersättliche Gier nach Bewunderung wohl auf irgendeine Art geahnt und versucht, sie zu stillen. Ich sollte jetzt gehen, dachte er. Ich habe schon genug Schaden angerichtet. Wo zum Teufel blieb bloß Annie Berenger?
Miranda schien sich wieder selbst ins Leben zurückzuholen. Sie strich ihr Haar aus dem Gesicht, richtete sich auf und blickte ihn an. In ihren Augen liegt so viel Qual, dachte er, und zur gleichen Zeit so viel Mut.
»Sie haben mir nie erzählt, weshalb Sie hier sind?«
»Der Doktor dachte, dass Sie jemand im Auge behalten sollte.«
»Nein, ich meine, warum sie überhaupt hierher gekommen sind?«
»Oh.« Er lehnte sich zurück. »Ich war heute Nachmittag beim Herald und sprach mit Jill Vickery über den Stone Coast Artikel, den Sie erwähnten. Sie behauptet, er sei nie geschrieben worden. Dass Richard niemals so weit mit ihm gekommen war.«
Miranda schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Ich weiß, dass er die letzten Seiten geschrieben hat. Ich sah sie auf seinem Schreibtisch beim Herald.«
»Gut, aber ich konnte keinen Artikel finden. Ich dachte, vielleicht wissen Sie, wo ich danach suchen soll. Oder vielleicht haben Sie ihn?«
Sie musterte ihn mit Befremden. »Warum sollte ich?«
»Ich nehme an, Richard war regelmäßig hier.«
»Aber er hat seine Arbeit nicht mitgebracht. Haben Sie sein Büro zu Hause durchsucht?«
»Da ist nichts.«
Sie dachte einen Augenblick lang darüber nach.
»Manchmal«, sagte sie, »fuhr er zur Nordküste hinauf, um zu schreiben. Er hatte ein Cottage …«
»Sie meinen Rose Hill. Ja, ich glaube, da sollte ich morgen einmal nachsehen.«
Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen sich schweigend an.
»Sie fangen an, mir zu glauben, oder?«
Er hörte die aufkeimende Hoffnung in ihrer Stimme, wenngleich sie auch noch schwach war, und ertappte sich dabei, dass er sie ihr auch nicht ganz nehmen wollte. Es war schwer, ihr nicht zu glauben, vor allem, wenn sie ihn auf diese Art ansah, mit diesem unerschütterlichen Blick aus ihren leuchtenden, feuchten grauen Augen. Diese Augen konnten einen Mann um den Verstand bringen. Sie konnten seine Beherrschung ins Mark erschüttern und neue, verstörende Gefühle in ihm wach rufen. Obwohl sie mehr als eine halbe Raumlänge von ihm entfernt saß, nahm er ihre Präsenz wie ein schweres Parfum wahr, das man unmöglich ignorieren konnte.
Sie fragte ihn noch einmal leise: »Glauben Sie mir?«
Da erhob er sich abrupt, um den gefährlichen Zauber, mit dem sie ihn eingesponnen hatte, abzuschütteln.
»Nein«, sagte er. »Das kann ich nicht behaupten.«
»Aber sehen Sie denn nicht, dass es da etwas mehr gibt, als einfach nur ein … ein Verbrechen aus Leidenschaft?«
»Ich gebe zu, die Dinge passen nicht richtig zusammen, doch ich bin noch nicht so weit, Ihnen zu glauben. Noch lange nicht.«
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Chase drehte sich erschrocken um und sah, wie Annie Berenger ihren Kopf zur aufschwingenden Tür hereinstreckte.
»Hallo, die Kavallerie ist da«, rief sie. Mit einem alten T-Shirt und Jogginghosen bekleidet, kam sie herein. An ihren Sportschuhen klebte feuchtes Gras. »Wie sieht es aus?«
»Es geht mir gut«, sagte Miranda.
»Aber sie braucht jemanden, der nach ihr sieht«, erklärte Chase. »Falls es irgendwelche Probleme gibt, Dr. Steiners Nummer liegt neben dem Telefon.«
»Sie gehen schon?« fragte Annie.
»Man wird mich zu Hause erwarten.« Er ging zur Tür, blieb kurz stehen und blickte auf Miranda zurück.
Sie hatte sich nicht gerührt, sondern saß einfach da. Er spürte das Bedürfnis, ihr etwas Tröstliches zu sagen, ihr mitzuteilen, dass das, was er vorher gesagt hatte, nicht so gemeint gewesen war, dass er tatsächlich begann, ihr zu glauben. Doch er konnte es ihr gegenüber nicht zugeben, weil er es sich selbst kaum eingestehen wollte. Außerdem war jetzt Annie da, die alles mit den Argusaugen einer Reporterin beobachtete.
Deshalb sagte er lediglich: »Gute Nacht, Miranda. Ich hoffe, es geht Ihnen bald besser. Und Annie, danke für
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