Gefährliche Begierde
Zeit her, fünfzig Jahre. Vielleicht mehr …«
»Und diese Notiz?«
»Das ist eine Lüge, die später verbreitet wurde …«
»Wann später?«
»Als ich Jessie geheiratet habe.« Er machte eine Pause.
»Stanleys Frau.«
Da haben wir es, dachte Miranda. Das Geheimnis. Die Schande.
»Mr. Sulaway?« sagte Chase vorsichtig. »Was wussten die über Richard?«
Sully schüttelte den Kopf. »Haben sie mir nicht gesagt.«
»Aber sie hatten etwas?«
»Was auch immer es war, es brachte ihn nicht dazu zu verkaufen. Hatte einen dicken Schädel, Ihr Bruder. Und das hat ihm am Ende das Leben gekostet.«
»Warum verkaufen Sie nicht, Mr. Sulaway?« wollte Miranda wissen.
Der alte Mann fuhr herum. »Weil ich nicht verkaufen will«, sagte er. In seinen Augen erkannte sie den Blick eines Mannes, dessen Lebensfunke schon beinahe erloschen war.
»Es gibt keinen Weg, wie sie mich einschüchtern können. Jetzt nicht mehr.«
»Können sie nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Krebs.«
»Glaubst du, er hat seinen Bruder umgebracht?« fragte Miranda.
Sie spazierten an der Straße unter den gesprenkelten Schatten der Pinien und Birken entlang. Chase hatte seine Hände in den Taschen vergraben. »Was spielt es jetzt für eine Rolle, ob er es tat oder nicht?«
Ja, was spielte es für eine Rolle? fragte sie sich. Der alte Mann war dabei, dem jüngsten Gericht gegenüberzutreten. Unschuldig oder schuldig, er hatte bereits fünfzig Jahre mit den Konsequenzen gelebt.
»Es ist schwer zu glauben, dass Graffam in der Lage war, diese alte Geschichte auszugraben«, sagte Miranda. »Er ist neu auf der Insel. Was er gegen Sully in der Hand hatte, liegt über fünfzig Jahre zurück. Wie hatte er das über ihn herausgefunden?«
»Er heuerte einen Detektiv an?«
»Und der benutzte den Namen ›Sully‹? Nur ein Einheimischer kennt diesen Spitznamen.«
»Dann hatte er einen einheimischen Informanten. Jemanden, der sich auskennt.«
»Oder jemanden, dessen Geschäft es ist herauszufinden, was auf der Insel vor sich geht und den hiesigen Leuten nachspionieret«, fügte sie hinzu und dachte an Willie B. Rodell und die Alamo Detektei.
Sie kamen an ein Schild mit der Aufschrift Harmony House.
»Es wurde Frenchman’s Cottage genannt«, sagte Chase.
»Bis die Hippies es gekauft haben.« Sie bogen in einen Schotterweg ein und hörten das Klingeln der Windspiele lange bevor sie das Cottage erreichten.
»Ist jemand zu Hause?« rief Chase, als sie vor der Veranda standen.
Zuerst antworteten nur die Windspiele. Dann hörten sie Gelächter und Stimmen, die sich näherten. Zwischen den Bäumen sahen sie zwei Männer und eine Frau auf sie zu kommen.
Keiner von ihnen trug auch nur einen Faden Stoff auf dem Leib.
Dennoch wirkte das Trio nicht im Geringsten beunruhigt, als es die unerwarteten Besucher entdeckte. Die Frau hatte eine wilde Mähne, die großzügig von grauen Strähnen durchzogen war. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck friedlicher Gelassenheit. Die beiden Männer an ihrer Seite waren genauso zottelig und gelassen. Der Wetter gegerbte Mann mit den silbergrauen Haaren schien der offizielle Sprecher zu sein. Als seine beiden Kumpanen ins Cottage gingen, kam er auf Miranda und Chase zu und streckte seine Hand zur Begrüßung aus.
»Sie haben Harmony House gefunden«, sagte er. »War das Absicht oder Zufall?«
»Absicht«, erwiderte Chase, während er die Hand des Mannes schüttelte. »Ich bin Chase Tremain, Richards Bruder. Ihm gehörte das Rose Hill Cottage, oben an der Straße.«
»Ach ja, der Ort mit der unguten Aura.«
»Ungut?«
»Vanna spürt sie, wann immer sie sich dem Haus nähert. Disharmonische Schwingungen.«
»Das muss mir bislang entgangen sein.«
»Fleischessern entgeht so etwas für gewöhnlich.« Der Mann schaute Miranda aus seinen blassblauen Augen offensiv an, zu offensiv, für ihren Geschmack. »Haben Sie etwas gegen mein Auftreten?«
»Nein«, sagte sie. »Es ist nur, dass ich es nicht gewöhnt bin …« Ihr Blick wanderte nach unten und dann zurück in sein Gesicht.
Der Mann sah sie an, als sei sie eine bemitleidenswerte Kreatur. »Wie weit haben wir uns nur von unseren natürlichen Ursprüngen entfernt«, seufzte er. Er ging zur Brüstung der Veranda und griff nach einem Sarong, der dort zum Trocknen aufgehängt worden war. »Aber das erste Gebot der Gastfreundschaft lautet«, sagte er, während er das Tuch um seine Hüften schlang, »dass die Gäste sich wohl fühlen sollen. Also bedecken wir einfach
Weitere Kostenlose Bücher