Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben
Lederjacke und schmale dunkle Jeans, die an den dünnen Waden so eng war wie eine Strumpfhose, und offene braune Stiefel. Er sah ziemlich cool aus, doch weil sich gerade ein Sonnenstrahl durch die Wolken stahl, sah ich die Tränen, die auf seiner Wange glitzerten. In den Händen hielt er eine rote Rose.
Blumen, dachte ich. Verflixt, ich hatte Blumen vergessen, mit denen ich den Zutritt zum Grab legitimieren könnte. Als ich weiter hinten um die Ecke bog, um dem Trauerzug von Laura zu folgen, kam ich an einem Grab vorbei, das erst vor Kurzem angelegt worden war. Heiner Kröll war dreiundachtzig Jahre alt geworden und hatte offensichtlich eine große Familie, denn sein Grab war mit Blumen übersät. Ich blieb stehen. In einer Vase standen ein paar frisch aussehende weiße Lilien. Ich zögerte. Einem Verstorbenen Blumen klauen, das war wirklich das Allerletzte. Aber ohne zu kommen, war auch unmöglich.
»Es tut mir total leid, Heiner Kröll. Aber das ist ein Notfall. Und ich leihe mir nur eine kurz aus und bringe sie wieder zurück, versprochen.« Ich nahm eine Blume aus der Vase. »Sie sind ein guter Mensch«, flüsterte ich Heiner Kröll zu. Im Gegensatz zu mir. Aber immerhin – mit der Lilie geschmückt, konnte ich als Vertreterin der Schülerschaft auftreten. Auf einem Hügel am Ende des Friedhofs versammelten sich die Angehörigen von Laura. Ich näherte mich langsam und stellte mich in die letzte Reihe, neben zwei chinesische Männer, die mich keines Blickes würdigten. Ein Priester redete eine Zeit lang über Laura, aber ich konnte hier hinten nicht alles verstehen. Außerdem war ich abgelenkt damit, die Anwesenden zu beobachten. Außer mir und einer älteren deutschen Frau gehörten alle anderen Gäste offensichtlich zur Familie des Vaters. Junge Leute waren gar nicht dabei. Komisch, dachte ich. Sie war doch siebzehn gewesen. Da muss man doch Freundinnen und Freunde gehabt haben. Als der Sarg hinabgelassen wurde, wandten sich die Leute von dem Grab ab. Ich schaffte es gerade noch, mich umzudrehen, bevor auffiel, dass ich keine Ahnung hatte, wie das hier vor sich ging. Zum Glück hatte ich gestern bei dem katholischen Gottesdienst schon ein paar Rituale geübt. Kurz darauf drehten sich alle wieder um und einer nach dem anderen schmiss eine Handvoll Erde in das Grab. Ich reihte mich ein. Mein Herz klopfte. Ein Kranz, den die Schule geschickt hatte, stand auf einem Ständer. Als ich dran war und vor dem Loch stand, wurde mir ganz schwummerig. Da liegt eine Klassenkameradin von mir drin, dachte ich. Sie war wirklich tot, und das war wirklich die unfassbarste Sache, die ich mir vorstellen konnte. Ich kenne dich nicht, sagte ich stumm zu ihr, aber ich werde herausfinden, was passiert ist. Ich warf eine Handvoll Erde hinein und legte die Blume ab. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und wandte mich den Eltern zu. Der Vater ignorierte mich komplett. Er hatte die Hände vor sich zusammengelegt und stand da, ungerührt wie die Chinesische Mauer. Entweder er war von Trauer übermannt oder er war kalt wie ein Eisblock. Ich traute mich nicht, ihn anzusprechen. Und das wollte was heißen. Deswegen hielt ich erst vor Lauras Mutter. Ich reichte ihr die Hand und sagte: »Herzliches Beileid von allen Schülerinnen.«
Sie war irritiert, dennoch nahm sie mechanisch meine Hand und erwiderte meinen Händedruck.
»Besonders von Milena«, fügte ich hinzu.
Die Hand entglitt mir. Lauras Mutter kniff den Mund zusammen, die Mundwinkel sackten deutlich herab. »Danke«, sagte sie knapp, aber genauso gut hätte sie ausspucken können. Ihr Mann zischte ihr was auf Chinesisch zu. Sie antwortete ebenfalls in dem merkwürdigen Singsang. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hatte, aber auf einmal kam jemand von hinten und packte mich am Arm. Der Mann war kleiner als ich und ziemlich kräftig und insgesamt eine ziemlich unheimliche chinesische Version von Enzo. Mit Nachdruck geleitete dieser böse Jackie Chan mich weg. Als wir außer Sichtweite der Eltern waren, sagte er ganz ruhig: »Sie jetzt gehen. Lassen Familie in Ruhe.«
Ich widersprach nicht. Er ließ mich erst los, als wir ein ganzes Stück von der Trauergemeinde entfernt waren, und bekräftigte noch einmal: »Sie nicht mehr wiederkommen.«
»Nein, nein, keine Sorge«, sagte ich und machte, dass ich davonkam. Ich eilte über den Friedhof zum Parkplatz und schlüpfte in das warme Auto. Erst als ich saß, merkte ich, dass dieser Typ mir einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte.
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