Gefährliche Geliebte
sagst, daß du mich lieb hast. Und daß du für mich dasein willst. Aber manchmal weiß ich beim besten Willen nicht, was in deinem Kopf vorgeht.«
Izumi zog ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Erschrocken bemerkte ich, daß sie schon seit einer Weile weinte. Ich wußte nicht, was ich hätte sagen können, also wartete ich einfach stumm darauf, daß sie weiterredete.
»Du machst am liebsten alles mit dir selbst ab, und du kannst es nicht leiden, wenn dir Leute in den Kopf hineinzugucken versuchen. Vielleicht liegt das daran, daß du ein Einzelkind bist. Du bist daran gewöhnt, allein zu denken und zu handeln. Du meinst, wenn du etwas verstehst, dann reicht das.« Sie schüttelte den Kopf. »Und das macht mir angst. Ich fühle mich alleingelassen.«
Einzelkind. Ich hatte dieses Wort schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gehört. Auf der Grundschule hatte es mich verletzt, so genannt zu werden. Aber Izumi verwendete es in einem anderen Sinn. Ihr »Einzelkind« meinte kein verwöhntes, verzogenes Bübchen, sondern richtete sich an mein isoliertes Ich, das die Welt nicht an sich heranließ. Sie machte mir daraus keinen Vorwurf; die Situation machte sie einfach nur sehr traurig.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich war, als wir uns in den Armen gehalten haben«, sagte sie, als wir uns voneinander verabschiedeten. »Es hat mir Mut gemacht, und ich habe gedacht, wer weiß, vielleicht wird doch noch alles gut. Aber so einfach ist das Leben leider nicht.«
Auf dem Rückweg vom Bahnhof ließ ich mir das, was sie gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Es stimmte schon. Ich war nicht daran gewöhnt, mich anderen Menschen zu öffnen. Sie öffnete sich mir mehr und mehr, aber ich war dazu nicht imstande. Ich mochte sie wirklich gern, aber trotzdem hielt mich irgend etwas zurück.
Ich war den Weg vom Bahnhof nach Hause schon tausendmal gegangen, aber jetzt erschien mir alles wie neu und fremd. Ich schaffte es nicht, das Bild von Izumis nacktem Körper abzuschütteln: ihre festen Brustwarzen, ihr Büschelchen Schamhaar, ihre weichen Oberschenkel. Und schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich holte mir Zigaretten aus einem Automaten, ging zurück zu dem Park, wo wir uns unterhalten hatten, und steckte mir eine an, um mich zu beruhigen.
Wenn meine Tante nicht so hereingeplatzt wäre, wäre die Sache vielleicht besser ausgegangen. Wären wir nicht gestört worden, hätte sich unser Abschied erfreulicher gestalten können. Wir wären noch glücklicher gewesen. Aber auch wenn meine Tante nicht vorbeigekommen wäre, früher oder später wäre eben etwas anderes dieser Art passiert. Wenn nicht heute, dann morgen. Das Hauptproblem bestand darin, daß ich Izumi nicht davon überzeugen konnte, daß es unvermeidlich war. Weil ich es mir selbst nicht so recht abnahm.
Als die Sonne unterging, wehte ein kühler Wind. Es wurde jetzt schnell Winter. Und das neue Jahr würde die College-Aufnahmeprüfungen bringen und dann den Beginn eines völlig neuen Lebens. So unsicher ich mich auch fühlte, ich sehnte mich nach Veränderung. Mein Herz und mein Körper lechzten nach diesem unbekannten Land, nach einem Schwall frischer Luft. Das war das Jahr, in dem die japanischen Studenten die Universitäten besetzten und eine Flut von Demonstrationen Tokio überrollte. Die Welt veränderte sich unmittelbar vor meinen Augen, und ich fieberte danach, mich von diesem Rausch mitreißen zu lassen. Auch wenn Izumi wollte, daß ich dablieb, und wahrscheinlich bereit gewesen wäre, mit mir zu schlafen, nur um mich zu halten, wußte ich, daß meine Tage in der Schlafstadt gezählt waren. Wenn dies das Ende unserer Beziehung bedeutete, dann sollte es das eben bedeuten. Wenn ich dabliebe, ginge etwas in mir für immer verloren - etwas, was zu verlieren ich mir nicht leisten konnte. Es war wie ein undeutlicher Traum, ein brennendes, ungestilltes Verlangen. Ein Traum, wie man ihn nur mit siebzehn hat.
Izumi würde meinen Traum nie verstehen. Sie hatte ihre eigenen Träume, die Vision von einem völlig anderen Ort, einer Welt, die mit meiner kaum etwas gemein hatte.
Aber noch bevor mein neues Leben beginnen konnte, trat eine Krise ein, die unsere Beziehung zerstörte.
4
Das erste Mädchen, mit dem ich in meinem Leben schlief, war ein Einzelkind. Wie Izumi, war sie nicht gerade jemand, nach dem sich die Leute auf der Straße umdrehten; den meisten wäre sie wahrscheinlich gar nicht
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