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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Gefühle?«
    »Genau«, sagte ich. »Alles verschwindet eines Tages. Wie diese Bar - sie wird sich nicht ewig halten. Der Geschmack der Leute ändert sich, und schon eine geringfügige Schwankung der Wirtschaftslage würde genügen, um die Bar untergehen zu lassen. Ich habe so etwas schon erlebt; es gehört nicht viel dazu. Alles, was eine Gestalt besitzt, verschwindet irgendwann. Aber bestimmte Gefühle bleiben uns immer erhalten.«
    »Nur, weißt du, Hajime, manche Gefühle bereiten uns Schmerz, gerade weil sie nicht verschwinden. Meinst du nicht auch?«
    Der Tenorsaxophonist kam an die Theke, um sich bei mir für den Whisky zu bedanken. Ich machte ihm Komplimente für sein Spiel.
    »Jazzmusiker sind heutzutage so wohlerzogen«, erklärte ich Shimamoto. »Als ich aufs College ging, war das noch ganz anders. Sie nahmen alle Drogen, und wenigstens die Hälfte von ihnen waren völlig kaputte Typen. Aber manchmal hörte man einen dieser Gigs, die einen zum Abheben brachten. Ständig hörte ich damals Jazz in den Clubs von Shinjuku, und immer in der Erwartung, abzuheben.«
    »Du magst diese Leute, nicht?«
    »Sieht ganz so aus«, sagte ich. »Die Menschen wollen etwas Besonderes erleben, etwas, das sie umwirft. Neun von zehn Ereignissen kannst du vergessen, aber das zehnte, dieses Gipfelerlebnis - das ist es, was die Leute wollen. Das kann die Welt bewegen. Das ist Kunst.«
    Ich sah wieder auf meine Hände. Dann blickte ich zu ihr auf. Sie wartete darauf, daß ich weiterredete.
    »Wie auch immer, jetzt sieht es anders aus. Ich führe eine Bar, und es ist mein Job, Kapital zu investieren und Profit zu erwirtschaften. Ich bin weder Künstler noch sonstwie schöpferisch. Ich bin kein Kunstmäzen. Es mag dir gefallen oder nicht, aber Kunst darfst du hier nicht erwarten. Und für den Geschäftsführer ist es viel einfacher, es mit einer gepflegten, gesitteten Band zu tun zu haben als mit einer Horde von Charlie Parkers.«
    Sie bestellte sich einen weiteren Cocktail. Und steckte sich eine weitere Zigarette an. Lange schwiegen wir. Sie schien Gedanken nachzuhängen. Ich hörte dem Bassisten zu, der in »Embraceable You« ein langes Solo spielte. Der Pianist begleitete ihn mit gelegentlichen Akkorden, während der Schlagzeuger sich den Schweiß abwischte und einen Drink nahm. Ein Stammgast kam zu mir an die Theke, und wir plauderten eine Weile.
    »Hajime«, sagte Shimamoto einige Zeit darauf, »kennst du vielleicht einen schönen Fluß? Einen hübschen Fluß in einem Tal, nicht zu breit, einen, der ziemlich schnell direkt ins Meer fließt?«
    Überrascht sah ich sie an. »Einen Fluß?« Wovon redete sie eigentlich? Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Sie sah ruhig vor sich hin, als blicke sie auf eine ferne Landschaft.
    Vielleicht war jedoch ich derjenige, der weit entfernt war – fern von ihrer Welt zumindest, durch eine unvorstellbar weite Kluft von ihr getrennt. Dieser Gedanke machte mich traurig. Etwas in ihren Augen ließ einen traurig werden.
    »Was soll das auf einmal mit dem Fluß?« fragte ich.
    »Es ist mir nur plötzlich eingefallen«, sagte sie. »Kennst du so einen Fluß?«
    Als Student war ich ziemlich viel mit dem Rucksack im Land umhergereist; von den japanischen Flüssen hatte ich also einige gesehen. Aber an einen, wie sie ihn beschrieb, konnte ich mich im Augenblick nicht erinnern.
    »Mir ist irgendwie, als gäbe es an der Küste des Japanischen Meeres so einen Fluß«, sagte ich nach längerem Nachdenken. »Wie er heißt, weiß ich nicht mehr, aber ich bin mir sicher, daß er in der Ishikawa-Präfektur liegt. Dürfte nicht schwer zu finden sein. Der käme dem, was du suchst, wahrscheinlich am nächsten.«
    Nun erinnerte ich mich deutlich an diesen Fluß. Ich war einmal während der Herbstferien dort gewesen, im ersten oder zweiten Collegejahr. Das herbstliche Laub hatte wunderbar geleuchtet, die Berge hatten wie blutgetränkt ausgesehen; sie reichten bis zum Meer. Das Rauschen des Wassers war herrlich, und gelegentlich hörte man im Wald Hirsche. Die Fische, die ich dort gegessen hatte, waren überirdisch gut gewesen.
    »Meinst du, du könntest mit mir dort hinfahren?« fragte Shimamoto.
    »Er ist in Ishikawa, ganz auf der anderen Seite«, sagte ich trocken. »Bis Enoshima könnte ich mir's noch vorstellen, aber dahin müßten wir fliegen, und anschließend noch mindestens eine Stunde fahren. Und dort übernachten. Du verstehst sicher, daß ich so etwas im Augenblick nicht unternehmen

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