Gefährliche Geliebte
hin. »Aber du mußtest deine Frau anlügen.«
»Mußte ich wohl«, sagte ich.
»Und das kann dir nicht leichtgefallen sein. Ich bin sicher, du hättest sie lieber nicht belogen.«
Ich wußte nicht, was ich darauf erwidern sollte. Aus dem nahen Wald ertönte wieder der scharfe Schrei einer Krähe.
»Ich habe dein Leben in Unordnung gebracht, das weiß ich wohl«, sagte Shimamoto kleinlaut.
»Reden wir nicht mehr davon, ja?« sagte ich. »Wenn wir schon so weit gereist sind, laß uns doch über etwas Lustigeres reden.«
»Worüber zum Beispiel?«
»So angezogen siehst du glatt wie ein Schulmädchen aus.«
»Danke«, sagte sie. »Ich wünschte, ich wäre eines.«
Langsam gingen wir flußaufwärts. Für eine Weile konzentrierten wir uns nur auf unsere Schritte und sprachen kein Wort. Shimamoto konnte nicht sehr schnell gehen, aber mit einer gleichmäßigen, langsamen Gangart kam sie zurecht. Sie hielt mich fest bei der Hand. Der Weg war hart gefroren, und unsere Gummisohlen erzeugten kaum ein Geräusch.
Ihre Bemerkung von vorhin hatte mir aus der Seele gesprochen: Wenn wir nur so hätten nebeneinander hergehen können, als wir Teenager waren, oder mit Anfang, Mitte Zwanzig - wie wunderbar wäre es gewesen! Ein Sonntagnachmittag, wir zwei allein, an einem Fluß wie diesem ... Es wäre für mich der Himmel auf Erden gewesen. Nur waren wir keine Teenager mehr. Ich hatte Frau und Kinder und einen Job. Und ich hatte meine Frau belügen müssen, um hierherkommen zu können. Ich mußte bald zum Flughafen zurückfahren, die Maschine erwischen, die um halb sieben in Tokio landete, und dann so schnell wie möglich nach Hause fahren, wo meine Frau schon auf mich warten würde.
Schließlich blieb Shimamoto stehen, rieb ihre behandschuhten Hände aneinander und sah sich aufmerksam um. Sie blickte erst stromaufwärts, dann stromabwärts. Am gegenüberliegenden Ufer zog sich eine Bergkette hin, linker Hand blickte man auf eine Zeile kahler Bäume. Wir waren völlig allein. Das Kurhotel mit den Thermalquellen und die Eisenbrücke lagen im Schatten der Berge verborgen. Gelegentlich zeigte sich in einem Wolkenspalt die Sonne, als erinnere sie sich plötzlich wieder an ihre Pflicht. Man hörte nichts außer den Schreien der Krähen und dem Rauschen des Wassers. Eines Tages, dachte ich, werde ich diese Szene irgendwo sehen. Es war das Gegenteil eines Déjà-vu-Erlebnisses - nicht das Gefühl, ich hätte das, was mich umgab, schon einmal gesehen, sondern die Vorahnung, daß ich es eines Tages sehen würde. Diese Vorahnung streckte ihren langen Arm aus und ergriff mein Bewußtsein; ich fühlte mich von ihr umklammert; dort an ihren Fingerspitzen war ich - ich in der Zukunft, alt geworden. Wie ich aussah, konnte ich natürlich nicht erkennen.
»Hier dürfte die richtige Stelle sein«, sagte sie.
»Wofür?« fragte ich.
Sie lächelte ihr gewohntes blasses Lächeln. »Für das, was ich gleich tun werde«, erwiderte sie.
Wir gingen zum Flußufer hinunter. An dieser Stelle bildete es eine kleine, stille Bucht, mit einer dünnen Eisschicht bedeckt.
Auf dem Grund der Bucht lagen ein paar abgefallene Blätter, reglos wie tote, platte Fische. Ich hob einen runden Stein auf und ließ ihn in der Hand rollen. Shimamoto zog die Handschuhe aus und steckte sie in die Taschen ihrer Jacke. Sie streifte sich die Umhängetasche von der Schulter, öffnete sie und zog einen kleinen, hübschen Stoffbeutel daraus hervor. In dem Beutel befand sich eine Urne. Sie löste den Verschluß und nahm vorsichtig den Deckel ab. Dann starrte sie eine Zeitlang in das Gefäß.
Ich stand neben ihr und sah ihr wortlos zu.
Die Urne enthielt weiße Asche. Sehr behutsam, um nichts zu verschütten, ließ Shimamoto die Asche auf ihre linke Handfläche rieseln. Die Asche bedeckte kaum ihren Handteller, so wenig war es. Asche von einer Feuerbestattung, nahm ich an. Es war ein ruhiger, windstiller Nachmittag, und die Asche bewegte sich kein bißchen. Shimamoto legte die leere Urne in ihre Tragetasche zurück, steckte den Zeigefinger in das Häufchen Asche, führte ihn an die Lippen und leckte daran. Sie sah mich an und versuchte zu lächeln. Aber es gelang ihr nicht. Ihr Finger blieb nah an ihren Lippen.
Als sie sich am Fluß niederkauerte und die Asche ins Wasser streute, stellte ich mich neben sie und sah zu. Die kleine Menge Asche wurde im Nu von der Strömung davongetragen. Nebeneinander standen Shimamoto und ich am Ufer und blickten auf das Wasser. Sie starrte auf
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