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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Möglicherweise war sie nicht einmal bei Bewußtsein. Ich mußte sie in ein Krankenhaus bringen, und zwar schnell. Wir würden mit Sicherheit unsere Maschine verpassen, aber das war jetzt wirklich meine letzte Sorge. Shimamoto konnte sterben, und ich würde alles dagegen unternehmen, was nur in meiner Macht stand.
    Doch als ich den Wagen wieder anließ, merkte ich, daß sie etwas zu sagen versuchte. Ich stellte den Motor ab, näherte mein Ohr ihren Lippen, aber ich verstand nicht, was sie sagte. Es klang weniger wie Worte als wie das Pfeifen des Windes durch eine Mauerritze. Unter Aufbietung all ihrer Kraft wiederholte sie immer und immer wieder das gleiche. Schließlich konnte ich ein einzelnes Wort identifizieren. »Medikament.«
    »Du willst ein Medikament nehmen?« fragte ich.
    Sie bewegte den Kopf, ein winziges Nicken. Ein so schwach angedeutetes Nicken, daß ich es schier nicht bemerkt hätte, aber mehr brachte sie nicht zustande. Ich durchwühlte die Taschen ihrer Jacke. Geldbeutel, Taschentuch, ein großer Schlüsselbund, aber kein Medikament. Ich öffnete ihre Umhängetasche. Darinnen lag eine kleine Arzneischachtel mit vier Kapseln. Ich zeigte ihr die Kapseln. »Ist es das?«
    Ohne die Augen zu bewegen, nickte sie wieder.
    Ich kippte die Lehne ihres Sitzes zurück, öffnete ihren Mund und legte eine Kapsel hinein. Aber ihr Mund war knochentrocken, und sie würde nichts herunterbekommen. Ich sah mich verzweifelt nach einem Getränkeautomaten um, aber es war keiner da. Und wir hatten keine Zeit, einen zu suchen. Die einzige verfügbare Wasserquelle war der Schnee. Gott sei Dank gab es davon genug. Ich sprang aus dem Auto, klaubte unter dem vorspringenden Dach des Gebäudes etwas sauberen Schnee zusammen und füllte damit Shimamotos Wollmütze. Dann steckte ich ihn mir klümpchenweise in den Mund und ließ ihn darin zergehen. Es dauerte eine Weile, eine ausreichende Menge zum Schmelzen zu bringen, und meine Zungenspitze verlor vor Kälte jedes Gefühl. Ich öffnete ihre Lippen und ließ das Wasser aus meinem Mund in ihren rinnen. Dann hielt ich ihr die Nase zu und zwang sie zu schlucken. Sie würgte schwach, aber nachdem ich die Prozedur ein paarmal wiederholt hatte, gelang es ihr endlich, die Kapsel zu schlucken.
    Ich sah mir die Schachtel an. Es stand nichts darauf geschrieben - weder der Name des Präparats noch ihr Name oder irgendwelche Einnahmevorschriften. Merkwürdig, dachte ich, normalerweise werden doch immer die nötigen Informationen mitgeliefert, damit man nicht versehentlich das Falsche nimmt oder damit andere wissen, was sie tun sollen. Ich legte die Schachtel in Shimamotos Tasche zurück und beobachtete sie eine Weile. Ich hatte keine Ahnung, um was für ein Medikament es sich handelte oder was ihre Symptome waren, aber da sie das Präparat offenbar immer bei sich trug, mußte es ja wohl seine Wirkung tun. Wenigstens für sie war das kein völlig unerwarteter Anfall gewesen.
    Zehn Minuten später begannen ihre Wangen wieder etwas Farbe anzunehmen. Ich legte meine Wange sanft an ihre; die Wärme kehrte langsam zurück. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und stellte ihre Sitzlehne wieder hoch. Sie würde also doch nicht sterben. Ich legte die Arme um ihre Schultern und rieb meine Wange an ihrer. Langsam, ganz, ganz langsam, kehrte sie in die Welt der Lebenden zurück.
    »Hajime«, flüsterte sie mit spröder Stimme.
    »Sollten wir nicht in ein Krankenhaus fahren? Vielleicht sollten wir den nächsten Notarzt suchen«, fragte ich.
    »Nein, brauchen wir nicht«, erwiderte sie. »Es geht mir gut. Solange ich meine Medizin nehme, ist alles in Ordnung. In ein paar Minuten ist alles wieder gut. Wir sollten uns nur darum kümmern, ob wir die Maschine jetzt noch erwischen.«
    »Zerbrich dir um Gottes willen darum nicht den Kopf. Wir bleiben hier, bis es dir bessergeht.«
    Ich wischte ihr den Mund mit einem Taschentuch ab. Sie nahm mir das Tuch aus der Hand und sah es an. »Bist du immer so lieb, zu allen?«
    »Nicht zu allen«, sagte ich. »Zu dir ja. Ich kann nicht zu jedem freundlich sein. Meine Freundlichkeit hat ihre Grenzen - auch was dich betrifft. Ich wollte, es wär nicht so; dann könnte ich viel mehr für dich tun. Aber ich kann's nicht.«
    Sie wandte mir ihr Gesicht zu.
    »Hajime, ich habe das nicht absichtlich getan, damit wir das Flugzeug verpassen«, sagte sie sehr leise.
    Erschrocken starrte ich sie an. »Natürlich nicht! Das brauchst du mir doch nicht zu sagen! Es ging dir

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