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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ihre Handfläche, dann wischte sie die letzte daran haftende Asche ab und zog ihre Handschuhe an.
    »Wird sie wirklich das Meer erreichen?« fragte sie.
    »Ich glaube schon«, sagte ich. Aber ich war mir nicht sicher. Bis zum Meer war es noch ein ganzes Stück. Vielleicht würde sich die Asche irgendwo setzen. Doch selbst dann würde etwas davon irgendwann ins Meer gelangen.
    Shimamoto hob ein Stück Holz auf, das in der Nähe herumlag, und begann an einer Stelle, wo der Boden weich war, zu graben. Ich half ihr dabei. Als wir ein kleines Loch ausgehoben hatten, legte sie die in Stoff gehüllte Urne hinein und deckte sie mit Erde zu. In der Ferne krächzten Krähen, die jede unserer Bewegungen verfolgt hatten. Egal, dachte ich; guckt nur zu, wenn ihr wollt. Wir tun nichts Unrechtes. Wir haben nur ein wenig verbrannte Asche in den Fluß gestreut.
    »Glaubst du, es wird zu Regen?« fragte Shimamoto. Sie klopfte mit der Spitze ihres Stiefels auf den Boden.
    Ich sah zum Himmel auf. »Eine Weile hält sich das Wetter wohl noch«, sagte ich.
    »Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich meine: Wird die Asche des Kindes in die See fließen, sich mit dem Meerwasser vermischen, verdunsten, sich zu Wolken sammeln und als Regen niedergehen?«
    Ich sah noch einmal zum Himmel auf. Und dann auf den strömenden Fluß.
    »Wer weiß«, sagte ich. In unserem Mietwagen fuhren wir zurück zum Flughafen. Das Wetter verschlechterte sich zusehends. Der Himmel hatte sich mit einer schweren Wolkendecke bezogen, kein Blau war mehr zu sehen. Es sah so aus, als werde es jeden Augenblick zu schneien beginnen.
    »Das war die Asche meines Kindes. Des einzigen Kindes, das ich je hatte«, sagte Shimamoto, als redete sie mit sich selbst.
    Ich warf ihr einen Blick zu, dann sah ich wieder nach vorn. Die Lastwagen ließen schmutzigen Schneematsch aufspritzen, und ich mußte immer wieder den Scheibenwischer einschalten.
    »Mein Kind ist am Tag nach seiner Geburt gestorben«, sagte sie. »Es hat nur einen Tag lang gelebt. Ich habe es nur ein paarmal in den Armen gehalten. Es war ein schönes Baby. Ganz, ganz sanft ... Sie wußten den Grund nicht, aber es konnte nicht richtig atmen. Als es starb, hatte es schon eine andere Farbe.«
    Ich brachte kein Wort hervor. Ich streckte die Hand aus und legte sie auf ihre.
    »Es war ein kleines Mädchen. Ohne Namen.«
    »Wann ist das geschehen?«
    »Genau vor einem Jahr. Im Februar.«
    »Die arme Kleine«, sagte ich.
    »Ich wollte sie nicht irgendwo begraben. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß sie irgendwo im Dunkeln läge. Ich wollte sie noch eine Weile bei mir behalten und dann ins Meer fließen und zu Regen werden lassen.«
    Dann sagte sie lange, lange nichts mehr. Ich fuhr stumm weiter. Wahrscheinlich war ihr nicht nach Reden zumute, jedenfalls hielt ich es für das Beste, sie in Ruhe zu lassen. Aber bald merkte ich, daß irgendwas nicht stimmte - ihre Atmung klang seltsam, wie ein mechanisches Rasseln. Anfangs dachte ich, es sei der Motor des Wagens, aber dann begriff ich, daß das Geräusch von der Seite kam, von Shimamoto neben mir. Es klang, als habe sie ein Loch in der Luftröhre, durch das bei jedem Atemzug Luft entwich.
    Als wir vor einer roten Ampel standen, wandte ich mich zu ihr um. Sie war weiß wie ein Laken und seltsam steif. Sie hatte den Kopf gegen die Kopfstütze gelehnt und starrte nach vorn. Kein Muskel ihres Gesichts bewegte sich, sie blinzelte nur ab und zu, wie unter Zwang. Ich fuhr noch ein Stück weiter, bis ich eine Stelle fand, wo ich von der Straße abbiegen konnte - auf den Parkplatz eines geschlossenen Bowling-Centers. Vom Dach des Gebäudes, das wie ein Hangar aussah, ragte eine Reklametafel mit einem gigantischen Kegel darauf in die Höhe. So allein auf diesem riesigen Parkplatz, schienen wir in eine Einöde am Rande der Zivilisation verschlagen worden zu sein.
    »Shimamoto-san.« Ich wandte mich ihr zu. »Ist alles in Ordnung?«
    Sie antwortete nicht. Sie saß nur zurückgelehnt da und gab dieses unheimliche Geräusch von sich. Ich legte ihr eine Hand an die Wange. Sie war so kalt wie die Szenerie, die uns umgab. Nicht die leiseste Spur von Wärme. Ich berührte ihre Stirn, aber sie schien kein Fieber zu haben. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Lag sie im Sterben? Hier und jetzt? Ich blickte ihr tief in die leblosen Augen. Ich sah nichts darin; sie waren so kalt und dunkel wie der Tod.
    »Shimamoto-san!« schrie ich, aber sie reagierte nicht. Ihre Augen sahen ins Leere.

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