Gefährliche Geliebte
ihrer Augenlider an den Horizont - an einen sehr fernen Horizont. Endlich konnte ich mir vorstellen, wie einsam sich Izumi damals gefühlt haben mußte, als wir miteinander gegangen waren. Shimamoto barg in sich eine eigene kleine Welt; eine Welt, die nur für sie existierte, zu der ich keinen Zutritt hatte. Ein einziges Mal hatte sich die Tür zu dieser Welt einen Spaltbreit geöffnet; nun aber blieb sie verschlossen.
Ich fühlte mich wieder wie ein hilfloser, verwirrter Zwölfjähriger. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun, was ich sagen sollte. Ich gab mir alle Mühe, die Ruhe zu bewahren und meinen Verstand zu benutzen, aber es war hoffnungslos. Was ich auch tat und sagte, war falsch. Jede Emotion wurde von diesem strahlenden Lächeln aufgesogen. Keine Sorge, sagte mir ihr Lächeln, es ist alles in Ordnung.
Was Shimamotos Leben anging, tappte ich völlig im dunkeln. Ich wußte nicht einmal, wo sie wohnte. Oder mit wem sie zusammenlebte. Ob sie verheiratet war oder verheiratet gewesen war. Ich wußte nur, daß sie im Februar vergangenen Jahres ein Kind bekommen hatte, das tags darauf gestorben war. Und daß sie noch nie gearbeitet hatte. Dennoch trug sie immer die teuersten Kleider und Accessoires, was bedeutete, daß sie über eine ganze Menge Geld verfügte. Mehr wußte ich von ihr nicht. Als sie das Kind bekommen hatte, war sie wahrscheinlich verheiratet gewesen, aber auch das war keineswegs sicher. Schließlich kommen Tag für Tag Tausende von unehelichen Kindern auf die Welt, nicht wahr?
Allmählich begann Shimamoto, mir dies und das aus ihren Jahren auf der Mittel- und Oberschule zu erzählen. Da zwischen jener Zeit und ihrem gegenwärtigen Leben offenbar kein direkter Zusammenhang bestand, machte es ihr nichts aus, davon zu sprechen. Nach und nach begriff ich, wie entsetzlich einsam sie gewesen war. Als Heranwachsende hatte sie sich stets nach Kräften bemüht, jedem Menschen in ihrer Umgebung gegenüber aufrichtig zu sein und nie Ausflüchte zu suchen. »Wenn man damit erst einmal anfängt, kommt man da nie wieder raus«, sagte sie mir. »Ich kann so nicht leben.« Aber es hatte nicht funktioniert. Ihre Einstellung führte nur zu dummen Mißverständnissen, die sie zutiefst verletzten. Sie kapselte sich immer mehr ab. Wenn sie morgens aufwachte, übergab sie sich und weigerte sich, in die Schule zu gehen.
Sie zeigte mir ein Foto aus der Zeit, als sie gerade auf die Oberschule gekommen war. Sie saß auf einem Stuhl in einem Garten, umgeben von blühenden Sonnenblumen. Es war Sommer, und sie hatte Jeans-Shorts und ein weißes T-Shirt an. Sie war hinreißend. Mit strahlendem Lächeln blickte sie in die Kamera. Mit ihrem jetzigen Lächeln verglichen, wirkte es ein bißchen befangen, aber es war dennoch wundervoll - ein Lächeln, das gerade darum so berührt, weil es gefährdet ist. Gewiß nicht das Lächeln eines einsamen Mädchens, das Tag für Tag unglücklich ist.
»Wenn ich nach diesem Bild urteilen sollte«, sagte ich, »würde ich sagen, du warst das glücklichste Mädchen der Welt.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. An ihren Augenwinkeln zeigten sich bezaubernde Fältchen; sie sah so aus, als entsinne sie sich einer fernen, vergangenen Szene. »Aus Fotos kann man überhaupt nichts schließen, Hajime. Das sind nur Schatten. Die wahre Shimamoto ist weit, weit fort. Sie ist auf keinem Bild zu sehen.«
Das Foto bereitete mir physische Schmerzen. Es machte mir bewußt, wie entsetzlich viel Zeit ich verloren hatte. Kostbare Jahre, nie mehr zurückzuholen, wie verzweifelt ich es auch versuchen mochte. Zeit, die nur damals existiert hatte, nur an jenem Ort. Lange konnte ich mich nicht von dem Foto losreißen.
»Was ist so interessant an dem Bild?« fragte Shimamoto.
»Ich versuche, die Zeit aufzufüllen«, erwiderte ich. »Es ist fünfundzwanzig Jahre her, daß ich dich zuletzt gesehen habe. Ich will diese Lücke auffüllen, wenigstens zu einem kleinen Teil.«
Sie lächelte und sah mich prüfend an, als stimme mit meinem Gesicht irgend etwas nicht. »Seltsam«, sagte sie, »du willst diese leere Zeitspanne auffüllen, und ich möchte, daß sie vollkommen leer bleibt.«
Die ganze spätere Schulzeit hindurch hatte sie nie einen richtigen Freund gehabt. Sie war ein schönes Mädchen gewesen, und die Jungen bemühten sich um sie, aber sie nahm sie kaum wahr. Sie ging mit einigen von ihnen aus, aber nie für längere Zeit.
»Jungen in diesem Alter sind nicht gerade liebenswert - das verstehst du, oder?
Weitere Kostenlose Bücher