Gefährliche Geliebte
Glatzkopfgeier holen. Ich pfeif darauf, was irgendwer sagt; ich liebe diesen Kratzer!«
»Vielleicht hast du recht«, gab sie zu. »Aber was ist das für eine Geschichte mit dem Glatzkopfgeier? Von normalen Geiern habe ich schon gehört - die fressen Leichen. Aber Glatzkopfgeier?«
Auf der Rückfahrt im Zug erklärte ich ihr in aller Ausführlichkeit die Unterschiede - hinsichtlich des Lebensraums, des Rufes, der Paarungszeit. »Der Glatzkopfgeier ernährt sich von Kunst. Der normale Geier ernährt sich von den Leichen unbekannter Leute. Man kann sie überhaupt nicht miteinander verwechseln.«
»Du bist ja ein komischer Typ!« Sie lachte. Und da, auf ihrem Platz im Zug, bewegte sie ganz leicht die Schulter, um meine zu berühren. Und das war in diesen zwei Monaten das erste und einzige Mal, daß unsere Körper sich berührten.
Der März ging vorüber und ebenso der April. Meine jüngere Tochter kam in den Kindergarten. Nun, da beide aus dem Haus waren, begann Yukiko ehrenamtlich als Helferin in einem Heim für behinderte Kinder zu arbeiten. Jetzt war es meist meine Aufgabe, unsere Töchter in den Kindergarten zu fahren und wieder abzuholen. Wenn ich aus irgendeinem Grund nicht konnte, sprang meine Frau ein. Mit anzusehen, wie die Kinder Tag für Tag größer wurden, ließ mich spüren, daß ich älter wurde. Ganz von selbst, ohne Rücksicht auf irgendwelche Pläne, die ich mit ihnen haben mochte, wuchsen meine Kinder heran. Natürlich liebte ich meine Töchter; sie aufwachsen zu sehen machte mich so glücklich wie nichts sonst. Manchmal jedoch fand ich es bedrückend, sie jeden Monat ein wenig größer werden zu sehen. Es war, als wachse in meinem Körper ein Baum, der Wurzeln in die Tiefe trieb, Äste ausbreitete und meine Organe, meine Muskeln und Knochen und meine Haut verdrängte, um sich einen Weg hinaus zu bahnen. Bisweilen wurde dieses Gefühl so beängstigend, daß ich nicht einschlafen konnte.
Einmal in der Woche sah ich Shimamoto. Und täglich fuhr ich meine Töchter zum Kindergarten und zurück. Und ein paarmal in der Woche schlief ich mit meiner Frau. Seit ich Shimamoto wieder regelmäßig sah, schlief ich mit Yukiko häufiger, jedoch nicht etwa aus schlechtem Gewissen. Sie zu lieben - und von ihr geliebt zu werden - war das einzige, was mich vor dem Auseinanderbrechen bewahrte.
»Du hast dich verändert. Was geht mit dir vor?« fragte mich Yukiko eines Nachmittags, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. »Es ist mir völlig neu, daß der Sexualtrieb von Männern auf Touren kommt, wenn sie siebenunddreißig werden.«
»Nichts geht vor. Alles ist wie gehabt«, erwiderte ich.
Sie sah mich eine Weile an und schüttelte den Kopf. »Hm. Ich wüßte wirklich gern, was in deinem Kopf so vorgeht«, sagte sie.
In meiner freien Zeit hörte ich klassische Musik und starrte auf den Friedhof von Aoyama hinaus. Ich las nicht mehr so viel wie früher. Meine Konzentrationsfähigkeit war zum Teufel.
Ein paarmal sah ich die junge Frau mit dem Mercedes 260E. Während wir darauf warteten, daß unsere Töchter herauskamen, standen wir vor dem Kindergarten herum und plauderten ein bißchen; wir tauschten Tips, wie sie nur ein Einwohner von Aoyama zu würdigen wußte: bei welchem Supermarkt man Parkplätze fand und zu welcher Tageszeit; daß in einem bestimmten italienischen Restaurant der Küchenchef gewechselt hatte und daß dort seitdem nichts Anständiges mehr geboten wurde; daß das Feinkostgeschäft Meiji-ya im kommenden Monat importierte Weine im Angebot haben würde. Verdammt, dachte ich. Ich bin eine richtige vertratschte Hausfrau geworden! Aber das war das einzige, worüber wir uns hätten unterhalten können. Mitte April verschwand Shimamoto erneut. Als ich sie zum letztenmal sah, saßen wir zusammen im Robin's Nest. Kurz vor zehn wurde ich aus meiner anderen Bar wegen einer Sache angerufen, um die ich mich sofort kümmern mußte. »In etwa einer halben Stunde bin ich zurück«, sagte ich zu Shimamoto.
»Gut«, sagte sie lächelnd. »Ich lese solange ein bißchen.«
Ich erledigte rasch, was es zu erledigen gab, und kehrte danach sofort ins Robin's Nest zurück, aber Shimamoto war nicht mehr da. Es war kurz nach elf. Auf dem Tresen lag ein Streichholzbriefchen mit einer Nachricht von ihr auf der Rückseite: »Wahrscheinlich kann ich eine Zeitlang nicht mehr kommen«, las ich. »Ich muß jetzt heim. Leb wohl. Mach's gut.«
Tagelang wußte ich nichts mit mir anzufangen. Ich streifte rastlos durchs Haus,
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