Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
fiel es mir leichter, mich auf die Belanglosigkeiten des Alltags zu konzentrieren. Tagträume verbot ich mir. Ich versuchte eisern, mich ganz auf das zu konzentrieren, was ich gerade tat. Wenn ich mir das Gesicht wusch, galt dem meine ungeteilte Aufmerksamkeit; wenn ich Musik hörte, ging ich völlig in der Musik auf. Anders hätte ich nicht überlebt.
    Im Sommer fuhr ich mit Yukiko und den Kindern oft in unser Ferienhaus in Hakone. Außerhalb von Tokio, in der freien Natur, waren Yukiko und die Kleinen gelöst und vergnügt. Sie pflückten Blumen, beobachteten durch das Fernglas Vögel, spielten Fangen, planschten im Fluß. Oder sie lagen einfach entspannt im Garten. Aber sie kannten die Wahrheit nicht - daß ich an einem bestimmten verschneiten Wintertag, wenn mein Flug ausgefallen wäre, alles hingeschmissen hätte, um mit Shimamoto zusammenzusein. Meinen Job, meine Familie, mein Geld - alles hätte ich weggeworfen, ohne zu zögern. Und noch immer hatte ich nichts im Kopf außer Shimamoto. Mein Körper konnte das Gefühl, sie in den Armen zu halten, ihre Wange zu küssen, nicht vergessen. Ich war außerstande, Shimamotos Bild aus meinem Bewußtsein zu verdrängen und durch dasjenige meiner Frau zu ersetzen. Ebenso wie ich nie erraten konnte, was Shimamoto dachte, ahnte niemand, was in mir vorging.
    Ich beschloß, in den letzten Wochen unserer Sommerferien den Umbau der Bar zu beenden. Während Yukiko und die Mädchen in Hakone blieben, fuhr ich nach Tokio zurück, um die Arbeiten zu beaufsichtigen und letzte Anweisungen zu erteilen. Ich ging weiterhin schwimmen und trainierte im Fitneß-Raum. Am Wochenende fuhr ich hinaus nach Hakone, schwamm mit meinen Kindern im Pool des Fujiya-Hotels, und dann aßen wir alle zusammen zu Abend. Und nachts schlief ich mit meiner Frau.
    Ich näherte mich mit großen Schritten den mittleren Jahren, aber ich hatte kaum ein Gramm überschüssiges Fett, und mein Haar wurde nicht schütter. Und nicht grau. Der Sport half, die unvermeidlichen physischen Verfallserscheinungen aufzuhalten. Ein geregeltes Leben führen, nichts im Übermaß treiben und auf die Ernährung achten: das war mein Credo. Ich wurde nie krank, und die meisten hätten mich auf höchstens Anfang Dreißig geschätzt.
    Meine Frau liebte es, meinen Körper anzufassen. Sie berührte meine Brust- und Bauchmuskeln und liebkoste meinen Penis und meine Hoden. Auch Yukiko trainierte regelmäßig im Fitneß-Center. Aber schlanker schien sie dadurch nicht zu werden.
    »Ich werde wohl langsam alt«, seufzte sie. »Ich nehme zwar ab, aber diesen Speckwulst werde ich einfach nicht los.«
    »Mir gefällt dein Körper genau so, wie er ist«, sagte ich zu ihr. »So, wie du bist, bist du richtig - du brauchst überhaupt keine Gymnastik zu treiben oder Diät zu halten. Fett bist du doch wirklich nicht.« Was meine ehrliche Meinung war. Ihr weicher Körper mit seinen zusätzlichen Polstern gefiel mir wirklich. Ich liebte es, ihren nackten Rücken zu massieren.
    »Du kapierst das nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Du sagst, ich kann ruhig so bleiben, wie ich bin - aber schon das kostet mich meine ganze Energie.«
    Ein Außenstehender hätte gesagt, daß wir ein ideales Leben führten. Phasenweise war ich sogar selbst davon überzeugt. Meine Arbeit machte mir Spaß und trug anständig Geld ein. Ich besaß eine große Eigentumswohnung in Aoyama, ein Ferienhäuschen in den Bergen bei Hakone, einen BMW, einen Jeep Cherokee. Und ich hatte eine glückliche Familie. Ich liebte meine Frau und meine beiden Töchter. Was konnte man schon mehr verlangen? Angenommen, Yukiko und die Mädchen hätten mich angefleht, ihnen zu sagen, was sie tun könnten, um mir noch mehr Freude zu machen, um mir noch lieber zu sein - ich hätte wirklich nichts darauf zu sagen gewußt. Ein glücklicheres Leben konnte ich mir nicht vorstellen.
    Und doch, seit Shimamoto aufgehört hatte, mich in der Bar zu besuchen, fühlte ich mich wie auf der luftleeren Oberfläche des Mondes ausgesetzt. Wenn sie nie wiederkommen sollte, dann blieb mir niemand, dem ich meine wahren Gefühle offenbaren konnte. Oft lag ich nachts schlaflos im Bett und ließ im Geiste immer wieder diese Szene auf dem verschneiten Flughafen von Komatsu ablaufen. Man braucht Erinnerungen nur oft genug hervorzuholen, und sie fangen irgendwann an zu verblassen. Glaubte ich wenigstens. Doch je mehr ich mich erinnerte, desto plastischer wurden die Erinnerungen. Das Wort »Verspätet«, das auf der

Weitere Kostenlose Bücher