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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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meinen Augen in Ruinen, die Bäume hatten jegliche Farbe verloren, und jeder Passant war ohne Gefühle, ohne Träume.
    Ich ging absichtlich in ein Kino, in dem ein wenig bekannter Film lief, und starrte konzentriert auf die Leinwand. Als der Film zu Ende war, ging ich hinaus auf die abendlichen Großstadtstraßen, setzte mich in das erstbeste Restaurant, an dem ich vorbeikam, und aß etwas. In Shibuya wimmelte es von Büroangestellten auf dem Heimweg. Wie im Zeitraffer fuhren Züge in den Bahnhof ein und verschlangen eine Menschenmenge nach der anderen. Ziemlich genau hier, fiel mir plötzlich ein, hatte ich rund zehn Jahre zuvor unter den Passanten Shimamoto entdeckt, mit ihrem roten Mantel und der Sonnenbrille. Es hätte genausogut eine Million Jahre her sein können. Mit einem Mal war mir alles wieder gegenwärtig. Die Menschenmengen, die sich an diesem letzten Tag des Jahres durch die Straßen gewälzt hatten, Shimamotos Art zu gehen, jede Ecke, um die wir bogen, der bewölkte Himmel, die Kaufhaustüte, die sie in der Hand trug, die Tasse Kaffee, die sie nicht anrührte, die Weihnachtslieder. Wieder einmal bedauerte ich es schmerzlich, ihr nicht hinterhergerufen zu haben. Damals war ich völlig ungebunden gewesen, hatte nichts zu verlieren gehabt. Ich hätte sie in die Arme schließen und einfach mit ihr fortgehen können. Was immer ihre Situation oder ihr Problem gewesen sein mochte, wir hätten einen Ausweg finden können. Aber ich hatte diese Chance für immer vertan. Ein geheimnisvoller Kerl mittleren Alters hatte mich am Ellbogen gepackt, und Shimamoto war in ein Taxi geschlüpft und verschwunden. Mit einem überfüllten Abendzug fuhr ich zurück. Während ich im Kino gewesen war, hatte sich das Wetter verschlechtert, und jetzt war der Himmel mit schweren Regenwolken bedeckt. Es sah so aus, als könnte es jeden Augenblick losregnen. Ich hatte keinen Schirm dabei, und ich trug noch immer die Segeljacke, die Bluejeans und Tennisschuhe, in denen ich am Morgen zum Schwimmen gegangen war. Ich hätte vor der Arbeit nach Hause gehen und wie sonst einen Anzug anziehen sollen, aber mir war nicht danach zumute. Was soll's, sagte ich mir. Einmal würde es auch ohne Krawatte gehen - davon ging die Welt nicht unter. Kurz vor sieben begann es zu regnen. Ein sanfter Regen, ein herbstlicher Nieselregen, der ganz danach aussah, als würde er so bald nicht wieder aufhören. Wie immer schaute ich zunächst in der neugestalteten Bar vorbei, um festzustellen, wie das Geschäft lief. Das Lokal wirkte nun fast so, wie ich es mir vorgestellt hatte, viel entspannter und zugleich funktionaler; die Beleuchtung war gedämpfter, und die Musik unterstrich noch diese Stimmung. Ich hatte eine kleine separate Küche einbauen lassen, einen professionellen Koch eingestellt und mir eine neue Speisekarte mit schlichten, aber eleganten Gerichten ausgedacht - mit Gerichten, die ohne überflüssige Zutaten oder irgendwelche Schnörkel auskamen, die ein Amateur aber niemals zustande bringen würde. Sie waren schließlich nur als Appetithappen zu den Drinks gedacht, darum mußten sie unkompliziert zu essen sein. Jeden Monat stellten wir eine völlig neue Speisekarte zusammen. Es war nicht leicht gewesen, den Koch zu finden, der mir vorschwebte. Am Ende hatte ich ihn aufgetan, allerdings für ein erheblich höheres Gehalt als vorgesehen. Aber er war sein Geld wert, und ich war zufrieden. Meine Gäste anscheinend auch.
    Gegen neun lieh ich mir in der Bar einen Schirm und machte mich auf den Weg zum Robin's Nest. Und um halb zehn tauchte dort Shimamoto auf. Seltsam, immer erschien sie an ruhigen, regnerischen Abenden.

14
    Sie trug ein weißes Kleid und eine übergroße marineblaue Jacke. Am Revers der Jacke schimmerte eine kleine fischförmige Silberbrosche. Das Kleid war schlicht geschnitten und ohne jedes schmückende Element, aber wenn man es an ihr sah, hätte man schwören können, es sei das teuerste Kleid der Welt. Sie war gebräunt; als ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie blasser gewesen. »Ich dachte schon, du würdest nie wiederkommen«, sagte ich. »Das sagst du jedesmal, wenn wir uns sehen«, sagte sie lachend. Wie immer setzte sie sich neben mich auf den Barhocker und legte beide Hände auf die Theke. »Aber ich habe dir doch eine Nachricht hinterlassen, daß ich eine Zeitlang nicht mehr kommen würde, oder?«
    »Eine Zeitlang ist eine Einheit, mit der niemand rechnen kann. Zumindest niemand, der wartet«, sagte ich. »Aber es muß

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