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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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weiß nur, wie du mit zwölf warst - mehr kann ich über dich nicht sagen. Die Shimamoto-san, die ein paar Straßen weiter wohnte und in meine Klasse ging. Aber das war vor fünfundzwanzig Jahren. Der Twist war in, und die Leute fuhren noch mit der Straßenbahn. Keine Musikkassetten, keine Tampons, kein Hochgeschwindigkeitszug, keine Vollwertkost. Lang vergangene Zeiten. Abgesehen von dem, was ich von der Shimamoto von damals weiß, tappe ich völlig im dunkeln.«
    »Liest du das in meinen Augen? Daß du nichts von mir weißt?«
    »In deinen Augen steht nichts«, erwiderte ich. »Es steht in meinen Augen geschrieben. In deinen sehe ich es nur gespiegelt.«
    »Hajime«, sagte sie, »ich weiß, daß ich dir mehr erzählen sollte. Wirklich. Aber ich kann's nicht ändern. Sprich also bitte nicht weiter.«
    »Wie gesagt, ich rede nur so vor mich hin. Kümmer dich nicht darum.«
    Sie hob eine Hand an ihr Revers und berührte mit den Fingerspitzen die Fischbrosche. Und hörte still dem Klaviertrio zu. Als das Set beendet war, klatschte sie und nahm einen Schluck von ihrem Cocktail. Schließlich stieß sie einen langen Seufzer aus und wandte sich mir zu. »Sechs Monate sind eine lange Zeit«, sagte sie. »Aber jetzt werde ich wohl wieder eine Zeitlang herkommen können. Wahrscheinlich.«
    »Die alten Zauberwörter«, sagte ich.
    »Zauberwörter?«
    »Wahrscheinlich und eine Zeitlang.«
    Sie lächelte und sah mich an. Sie holte aus ihrer kleinen Handtasche eine Zigarette und zündete sie sich mit einem Feuerzeug an.
    »Wenn ich dich ansehe, habe ich manchmal das Gefühl, ich betrachte einen fernen Stern«, sagte ich. »Er funkelt wunderschön, aber das Licht ist Zigtausende von Jahren alt. Vielleicht existiert der Stern schon gar nicht mehr. Und doch kommt mir dieses Licht oft wirklicher vor als alles andere.«
    Shimamoto sagte nichts.
    »Du bist hier«, fuhr ich fort. »Zumindest siehst du so aus, als seist du hier. Aber vielleicht bist du das gar nicht. Vielleicht ist nur dein Schatten hier. Die wirkliche Shimamoto könnte ganz woanders sein. Oder vielleicht bist du auch schon vor langer, langer Zeit verschwunden. Ich strecke die Hand aus, um mich zu vergewissern, aber du hast dich hinter einer Wolke von Wahrscheinlichs versteckt. Meinst du, wir können ewig so weitermachen?«
    »Möglicherweise. Vorläufig«, antwortete sie.
    »Offenbar bin ich nicht der einzige mit einem merkwürdigen Humor«, sagte ich. Und lächelte.
    Sie lächelte auch. Der Regen hat aufgehört, die Wolken reißen lautlos auf und lassen die allerersten Sonnenstrahlen durch: so ein Lächeln. Kleine, warme Fältchen um ihre Augenwinkel, etwas Wundervolles verheißend.
    »Hajime«, sagte sie, »ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.«
    Sie reichte mir ein schön eingeschlagenes Päckchen mit einer roten Schleife darauf.
    Ich sah mir die Maße und die Form des Päckchens an. »Sieht aus wie eine Schallplatte.«
    »Es ist eine Platte von Nat King Cole. Die eine, die wir uns damals immer zusammen angehört haben, weißt du noch? Ich schenke sie dir.«
    »Danke. Aber willst du sie nicht lieber behalten? Als Andenken an deinen Vater?«
    »Ich habe noch andere. Diese eine ist für dich.«
    Ich starrte auf die verpackte Schallplatte mit der Schleife darauf. Schon bald verklangen alle Geräusche um mich her - das Stimmengewirr in der Bar, die Musik des Klaviertrios - in der Ferne, als sei die Flut gewichen. Nur Shimamoto und ich blieben zurück. Alles übrige war Illusion, Kulisse, Pappmaché-Requisiten auf einer Bühne. Was existierte, was wirklich war, das waren wir beide.
    »Shimamoto-san«, sagte ich, »was hieltest du davon, wenn wir irgendwo hingingen und uns das zusammen anhörten?«
    »Das wäre wunderbar«, sagte sie.
    »Ich habe ein Ferienhäuschen in Hakone. Im Augenblick ist niemand dort, und es gibt da eine Stereoanlage. Um diese Uhrzeit könnten wir in anderthalb Stunden dort sein.«
    Sie blickte auf ihre Uhr, dann sah sie mich an. »Du willst jetzt dort hinfahren?«
    »Ja«, sagte ich.
    Sie kniff die Augen ein wenig zusammen. »Aber es ist schon nach zehn. Wenn wir jetzt nach Hakone fahren, sind wir erst sehr spät wieder zurück. Ist das kein Problem für dich?«
    »Nein. Für dich?«
    Wieder sah sie auf ihre Uhr. Dann schloß sie die Augen und hielt sie für gut zehn Sekunden geschlossen. Als sie sie wieder aufschlug, war ihr Gesicht verwandelt, als sei sie weit, weit fort gewesen, habe dort etwas abgelegt und sei dann wieder zurückgekehrt.

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