Gefaehrliche Liebe
gutmütig zu verstehen, dass sie wieder gehen kann, und taumelt weiter. »Brauch bloß ein bisschen frische Luft. Nur einen kleinen Moment.«
»Entschuldigung. Er ist betrunken«, sage ich. »Ich hole ihn rein.« Ich springe hinunter und stolpere hinter ihm an den Gleisen entlang. Meine Pantoffeln werden im Schnee klatschnass, während er mich ans Ende des Zuges führt, damit uns niemand hören kann. Dann wendet er sich zu mir.
»Was ist los?«
Ich erzähle ihm alles. Von dem Besuch des Präsidenten, von Gale und dass wir alle sterben müssen, wenn ich versage.
Sein Gesicht wird nüchterner, scheint im Licht der roten Schlusslichter zu altern. »Dann darfst du eben nicht versagen.«
»Wenn du mir bloß helfen kannst, diese Tour zu überstehen ...«, setze ich an.
»Nein, Katniss, es geht nicht nur um die Tour«, sagt er.
»Wie meinst du das?«, frage ich.
»Selbst wenn du es schaffst, kommen sie doch in ein paar Monaten wieder und holen uns alle zu den Spielen ab. Du und Peeta, ihr werdet Mentoren sein, jedes Jahr von nun an. Und jedes Jahr werden sie auf die Liebesgeschichte zurückkommen und alle Einzelheiten deines Privatlebens breittreten, und du kannst nichts anderes tun, als bis ans Ende deiner Tage mit diesem Jungen zu leben.«
Seine Worte treffen mich mit voller Wucht. Selbst wenn ich es möchte, wird es für mich nie ein Leben mit Gale geben. Ich werde nie allein leben dürfen. Ich muss für immer in Peeta verliebt sein. Das Kapitol wird darauf bestehen. Ein paar Jahre darf ich vielleicht noch mit meiner Mutter und Prim zusammenwohnen, weil ich ja erst siebzehn bin. Und dann ... und dann ...
»Verstehst du, was ich sagen will?«, drängt er.
Ich nicke. Er will sagen, dass es nur eine mögliche Zukunft gibt, wenn ich dafür sorgen möchte, dass meine Lieben und ich selbst am Leben bleiben. Ich werde Peeta heiraten müssen.
4
Schweigend trotten wir zurück zum Zug. Im Gang vor meinem Abteil klopft Haymitch mir auf die Schulter und sagt: »Du könntest es viel schlechter treffen.« Dann geht er weiter zu seinem Abteil, die Weinfahne weht hinter ihm her.
In meinem Abteil ziehe ich die durchweichten Pantoffeln, den nassen Bademantel und den Schlafanzug aus. In den Schubladen sind noch mehr Schlafanzüge, doch ich krieche einfach in Unterwäsche unter die Bettdecke. Ich starre in die Dunkelheit und denke über das Gespräch mit Haymitch nach. Alles, was er gesagt hat, stimmt: die Erwartungen des Kapitols, meine Zukunft mit Peeta, sogar seine letzte Bemerkung. Natürlich könnte ich es viel schlechter treffen als mit Peeta. Aber darum geht es ja eigentlich nicht. Eine der wenigen Freiheiten, die wir in Distrikt 12 haben, ist das Recht, zu heiraten, wen wir wollen, oder auch gar nicht zu heiraten. Und jetzt haben sie mir selbst das noch genommen. Ich frage mich, ob Präsident Snow wohl darauf bestehen wird, dass wir Kinder bekommen. Wenn wir welche bekommen, werden sie sich jedes Jahr der Ernte stellen müssen. Und wäre das nicht ein Spektakel, wenn das Kind nicht nur eines Siegers, sondern gleich zweier Sieger für die Arena auserwählt würde? Es ist schon öfter vorgekommen, dass Kinder von Siegern in den Ring mussten. Dann gibt es jedes Mal große Aufregung, und die Leute sagen, dass diese Familie wirklich kein Glück hat. Aber es kommt so oft vor, dass es nicht nur mit Glück zu tun haben kann. Gale ist davon überzeugt, dass es Absicht ist; dass das Kapitol die Auslosung manipuliert, um die Dramatik zu steigern. Wenn man bedenkt, für wie viel Ärger ich gesorgt habe, dann dürfte jedem meiner Kinder ein Auftritt in den Spielen garantiert sein.
Ich denke an Haymitch, der unverheiratet ist, keine Familie hat und die Welt mit Alkohol ausblendet. Er hätte jede Frau im Distrikt haben können. Und wählte die Abgeschiedenheit. Nicht Abgeschiedenheit - das klingt zu friedlich. Eher so etwas wie Einzelhaft. Wusste er nach seiner Erfahrung in der Arena, dass das besser war, als die Alternative zu riskieren? Ich habe einen Vorgeschmack auf diese Alternative bekommen, als am Tag der Ernte Prims Name aufgerufen wurde und ich sah, wie sie zur Bühne ging, geradewegs in den Tod. Doch als Schwester konnte ich mich an ihrer Stelle melden, was unserer Mutter nicht erlaubt war.
Panisch versuche ich einen Ausweg zu ersinnen. Ich kann es nicht zulassen, dass Präsident Snow mich zu diesem Los verdammt. Und wenn ich mir das Leben nehmen müsste. Aber vorher würde ich versuchen zu fliehen. Was würden sie
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