Gefaehrliche Liebe
oft telefoniert, denn mit dem Haus haben wir gleichzeitig auch ein Telefon bekommen. Es ist eigentlich ein Witz, weil praktisch niemand, den wir kennen, eins besitzt. Peeta ja, aber ihn rufe ich natürlich nicht an. Haymitch hat seins schon vor Jahren aus der Wand gerissen. Meine Freundin Madge, die Tochter des Bürgermeisters, hat zu Hause ein Telefon, aber wenn wir uns unterhalten wollen, tun wir das persönlich. Am Anfang wurde das Ding fast gar nicht benutzt. Dann rief Cinna regelmäßig an, um an meinem Talent zu arbeiten.
Von jedem Sieger wird erwartet, dass er ein Talent hat. Ein Hobby, das man pflegt, da man ja weder zur Schule gehen noch arbeiten muss. Es kann eigentlich alles sein, alles, wovon sich in einem Interview erzählen lässt. Peeta hat tatsächlich ein Talent, er kann malen. Jahrelang hat er die Torten und Kekse in der Bäckerei seiner Familie verziert. Aber jetzt, da er reich ist, kann er es sich leisten, richtige Farbe auf Leinwand zu pinseln. Ich habe kein Talent, mal abgesehen von illegalem Jagen, aber das gilt nicht. Oder vielleicht Singen, was ich nicht in einer Million Jahren für das Kapitol tun würde. Meine Mutter hat versucht, mich für die unterschiedlichsten Hobbys von einer Liste, die Effie Trinket ihr geschickt hat, zu begeistern. Kochen, Blumenbinden, Flötenspiel. Nichts davon hat geklappt, während Prim für alle drei Talent hatte. Schließlich hat Cinna sich eingeschaltet und angeboten, meine Leidenschaft für Modedesign zu entwickeln, die wirklich erst entwickelt werden musste, da sie bis dahin gar nicht existierte. Aber ich habe zugestimmt, weil ich auf diese Weise mit Cinna reden konnte, und er versprach, die ganze Arbeit zu machen.
Jetzt drapiert er mein Wohnzimmer mit Kleidern, Stoffen und Skizzenbüchern voller Zeichnungen, die er angefertigt hat. Ich nehme eins der Skizzenbücher und schaue ein Kleid an, das ich angeblich entworfen habe. »Also, ich finde mich wirklich vielversprechend«, sage ich.
»Zieh dich an, du nichtsnutziges Ding«, sagt er und wirft mir ein Bündel Kleider zu.
Ich interessiere mich zwar nicht für Design, aber ich liebe die Kleidung, die Cinna für mich entwirft. So wie diese hier. Eine locker fallende schwarze Hose aus dickem, warmem Stoff.
Ein bequemes weißes T-Shirt. Ein Pulli aus grüner, blauer und grauer lämmchenweicher Wolle. Lederne Schnürstiefel, die meine Zehen nicht einquetschen.
»Hab ich meine Kleider selbst entworfen?«
»Nein, es ist dein Ziel, deine eigenen Kleider zu entwerfen und wie ich zu sein, dein großes Mode-Idol«, sagt Cinna. Er reicht mir einen kleinen Stapel Karten. »Das liest du aus dem Off, während die Kleider gefilmt werden. Lass es so klingen, als ob es dich wirklich interessiert.«
In diesem Moment kommt Effie Trinket mit kürbisfarbener Perücke auf dem Kopf herein und mahnt alle: »Vergesst mir nicht den Zeitplan!« Sie küsst mich auf beide Wangen und winkt das Kamerateam herein, dann sagt sie mir, was ich zu tun habe. Effie allein ist es zu verdanken, dass wir im Kapitol immer pünktlich waren, also tue ich ihr den Gefallen. Ich hüpfe herum wie eine Marionette, halte Kleider hoch und sage sinnlose Sätze wie »Ist das nicht super?«. Während ich begeistert von meinen Karten ablese, nehmen die Tontechniker mich auf, um meine Kommentare später einfügen zu können. Dann werde ich hinausgeworfen, damit die Kameraleute in Ruhe meine beziehungsweise Cinnas Entwürfe filmen können.
Prim ist für das Ereignis extra früher von der Schule nach Hause gekommen. Jetzt steht sie in der Küche und wird von einem anderen Team interviewt. Sie sieht wunderschön aus in einem himmelblauen Kleid, das ihre Augen zur Geltung bringt; die blonden Haare sind mit einem Band in der gleichen Farbe zurückgebunden. Sie beugt sich auf den Spitzen ihrer glänzenden weißen Stiefel ein wenig vor, als wollte sie abheben wie ...
Wumm!
Es ist ein Gefühl, als hätte mir jemand gegen die Brust geschlagen. Natürlich nicht wirklich, aber der Schmerz ist so real, dass ich einen Schritt zurückweiche. Ich mache die Augen ganz fest zu und sehe nicht Prim - ich sehe Rue, das zwölfjährige Mädchen aus Distrikt 11, meine Verbündete in der Arena. Sie konnte fliegen wie ein Vogel, von Baum zu Baum, sie fand auf den zartesten Ästen Halt. Rue, die ich nicht gerettet habe. Die ich sterben ließ. Ich sehe sie vor mir, wie sie auf dem Boden liegt, den Speer im Bauch ...
Wen noch werde ich nicht vor der Rache des Kapitols retten
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