Gefaehrliche Liebe
Schneesturm, ehe ich sie zurückhalten kann.
»Verrücktes Mädchen«, murmelt Haymitch, während wir, meine Mutter voran, in die Küche gehen.
Was meine Mutter Gale auch verabreicht hat, ich hatte recht, es war nicht genug. Er beißt die Zähne zusammen und seine Haut glänzt vor Schweiß. Meine Mutter füllt eine Spritze mit der Flüssigkeit aus einer Ampulle und injiziert sie in seinen Arm. Fast augenblicklich entspannen sich seine Züge.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragt Peeta.
»Es kommt aus dem Kapitol. Man nennt es Morfix«, sagt meine Mutter.
»Ich wusste gar nicht, dass Madge Gale kennt«, sagt Peeta.
»Wir haben ihr immer Erdbeeren verkauft«, erkläre ich fast wütend. Worüber bin ich eigentlich wütend? Ganz bestimmt nicht darüber, dass sie die Medizin gebracht hat.
»Die muss sie aber wirklich gern mögen«, sagt Haymitch.
Das ist es, was mich fuchst. Die Andeutung, da könnte etwas zwischen Gale und Madge sein. Das gefällt mir gar nicht.
»Sie ist meine Freundin.« Mehr sage ich nicht.
Jetzt, da Gale mit dem Schmerzmittel entschwebt ist, wirken alle ernüchtert. Prim drängt uns ein wenig Eintopf und Brot auf. Hazelle wird zum Übernachten eingeladen, aber sie muss nach Hause zu ihren anderen Kindern. Haymitch und Peeta sind bereit zu bleiben, doch meine Mutter schickt sie nach Hause ins Bett. Sie weiß, dass das bei mir zwecklos wäre, also nimmt sie es hin, dass ich mich um Gale kümmere, während sie und Prim sich ausruhen.
Als ich mit Gale allein in der Küche bin, nehme ich Hazelles Platz auf dem Hocker ein und halte seine Hand. Nach einer Weile finden meine Finger sein Gesicht. Ich berühre Stellen seines Körpers, die zu berühren ich bisher nie einen Grund hatte. Seine dichten dunklen Augenbrauen, die Wölbung seiner Wange, die Linie seiner Nase, die Mulde unten am Hals. Ich fahre über seine Bartstoppeln und gelange schließlich zu den Lippen. Weich und voll, leicht aufgesprungen. Sein Atem wärmt meine kalte Haut.
Sehen alle Menschen im Schlaf jünger aus? Denn in diesem Moment könnte er der Junge sein, dem ich vor Jahren im Wald in die Arme gelaufen bin, der Junge, der mir vorwarf, ich hätte aus seinen Fallen gestohlen. Was für ein Gespann wir waren - vaterlos, ängstlich und doch wild entschlossen, unsere Familien zu retten. Verzweifelt, aber von jenem Tag an nicht mehr allein, denn wir hatten einander gefunden. Ich denke an hundert Augenblicke im Wald - wie wir eines Nachmittags gemächlich fischen, wie ich ihm das Schwimmen beibringe, wie er mich nach Hause trägt, als ich mir das Knie verdreht habe. Wir haben uns aufeinander verlassen, einander Rückendeckung gegeben, uns gegenseitig gezwungen, mutig zu sein.
Zum ersten Mal stelle ich mir die Situation umgekehrt vor. Ich stelle mir vor, Gale hätte sich bei der Ernte freiwillig gemeldet, um Rory zu retten, er wäre aus meinem Leben gerissen worden, der Geliebte eines fremden Mädchens geworden, um zu überleben, und dann mit ihr zurückgekehrt. Wäre in ein Haus neben ihr eingezogen. Hätte ihr einen Heiratsantrag gemacht.
Der Hass, den ich für ihn empfinde und für das imaginäre Mädchen, der Hass auf alles ist so echt und unmittelbar, dass er mir die Luft abschnürt. Gale gehört mir. Ich gehöre ihm. Alles andere ist undenkbar. Warum musste er erst halb totgepeitscht werden, damit ich es begreife?
Weil ich selbstsüchtig bin. Und feige. Ich bin ein Mädchen, das, wenn es sich wirklich mal nützlich machen könnte, wegläuft, um am Leben zu bleiben, und alle, die nicht mitkommen können, leiden und sterben lässt. Das ist das Mädchen, das Gale heute im Wald getroffen hat.
Kein Wunder, dass ich die Spiele gewonnen habe. Kein anständiger Mensch gewinnt je die Spiele.
Du hast Peeta gerettet,
denke ich schwach.
Aber jetzt stelle ich selbst das infrage. Ich wusste sehr wohl, dass mein Leben in Distrikt 12 unerträglich gewesen wäre, wenn ich diesen Jungen hätte sterben lassen.
Ich lege den Kopf auf die Tischkante, überwältigt von Selbsthass. Wäre ich doch in der Arena gestorben. Hätte Seneca Crane mich doch in die Luft gejagt, wie er es nach Präsident Snows Meinung hätte tun sollen, als ich Peeta die Beeren hinhielt.
Die Beeren. Mir wird bewusst, dass die Antwort auf die Frage, wer ich bin, in dieser Handvoll giftiger Früchte liegt. Wenn ich sie herausgeholt habe, weil ich wusste, dass ich verstoßen werde, wenn ich ohne Peeta zurückkehre, bin ich zu verachten. Wenn ich es getan habe, weil ich ihn
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