Gefaehrliche Liebe
heftigen Winden und den Schneewehen kommt mir gerade recht. Vielleicht kann er die eigentlichen Wölfe, auch bekannt als Friedenswächter, von meiner Tür fernhalten. Ein paar Tage zum Nachdenken. Um mir einen Plan zu überlegen. Mit Gale und Peeta und Haymitch in Reichweite. Dieser Blizzard ist ein Geschenk.
Ehe ich hinuntergehe, um mich dem neuen Leben zu stellen, nehme ich mir jedoch noch ein bisschen Zeit und führe mir vor Augen, was auf mich zukommt. Vor kaum einem Tag war ich noch entschlossen, mitten im Winter mit meinen Lieben in die Wildnis zu gehen, wohl wissend, dass das Kapitol uns wahrscheinlich verfolgen würde. Ein im besten Fall gewagtes Unternehmen. Und jetzt bin ich im Begriff, mich einer noch riskanteren Sache zu verschreiben. Wenn man gegen das Kapitol kämpft, ist eine rasche Vergeltung gewiss. Ich muss darauf gefasst sein, dass sie mich jeden Moment verhaften können. Es wird an der Tür klopfen, genau wie letzte Nacht, und ein Trupp von Friedenswächtern wird mich wegschleppen. Vielleicht werden sie mich foltern. Verstümmeln. Mir auf dem öffentlichen Platz eine Kugel in den Kopf jagen, und dann hätte ich noch Glück, weil das wenigstens schnell geht. Das Kapitol hat unendlich viele Todesarten auf Lager. All das stelle ich mir vor und ich habe schreckliche Angst, aber ganz ehrlich: Es hat sowieso schon in meinem Hinterkopf gelauert. Ich war ein Tribut bei den Spielen. Der Präsident hat mir gedroht. Man hat mir mit der Peitsche ins Gesicht geschlagen. Sie haben es sowieso schon auf mich abgesehen.
Jetzt kommt das Schwierigere. Ich muss der Tatsache ins Auge blicken, dass meine Familie und meine Freunde dieses Los womöglich teilen müssen. Prim. Ich brauche nur an Prim zu denken und meine Entschlusskraft ist dahin. Es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, und mein Atem geht so schnell, dass ich den ganzen Sauerstoff aufbrauche und anfange, nach Luft zu schnappen. Ich kann es nicht zulassen, dass das Kapitol Prim wehtut.
Und dann begreife ich. Das haben sie schon getan. Sie haben ihren Vater in diesen verdammten Bergwerken umgebracht. Haben tatenlos zugesehen, wie sie fast verhungert wäre. Haben sie als Tribut ausgewählt, und sie musste zuschauen, wie ihre Schwester auf Leben und Tod in den Spielen kämpfte. Sie hat schon viel mehr durchlitten als ich mit zwölf. Und selbst das verblasst gegen das Leben, das Rue geführt hat.
Ich schiebe die Decke weg und sauge die kalte Luft ein, die durch die Fensterscheiben dringt.
Prim ... Rue ... sind nicht gerade sie der Grund dafür, dass ich versuchen muss zu kämpfen? Weil das, was ihnen angetan wurde, so verkehrt ist, so unrecht und gemein, dass ich keine Wahl habe? Weil keiner das Recht hat, sie so zu behandeln, wie sie behandelt worden sind?
Ja. Daran muss ich immer denken, wenn die Angst mich zu überwältigen droht. Was ich auch vorhabe, was auch immer wir ertragen müssen, es wird für sie sein. Rue kann ich nicht mehr helfen, aber vielleicht ist es noch nicht zu spät für die fünf kleinen Gesichter, die auf dem Platz in Distrikt 11 zu mir aufgeschaut haben. Nicht zu spät für Rory und Vick und Posy. Nicht zu spät für Prim.
Gale hat recht. Wenn die Leute den Mut aufbringen, könnte das jetzt die Chance sein. Und er hat recht damit, dass ich, da ich das alles in Gang gesetzt habe, ganz viel bewirken könnte.
Auch wenn ich keine Ahnung habe, was genau das sein soll. Aber der Entschluss, nicht zu fliehen, ist ein entscheidender erster Schritt.
Ich gehe unter die Dusche, und an diesem Morgen stellt mein Gehirn keine Proviantlisten für die Wildnis auf, es versucht sich vorzustellen, wie sie in Distrikt 8 den Aufstand organisiert haben. So viele, die dem Kapitol so deutlich die Stirn bieten. War das überhaupt geplant, oder ist es einfach ausgebrochen, nach Jahren voller Hass und Bitterkeit? Wie könnten wir so etwas hier auf die Beine stellen? Würden die Leute in Distrikt 12 mitmachen oder würden sie ihre Türen verschließen? Gestern hat sich der Platz im Nu geleert, nachdem Gale ausgepeitscht worden war. Aber kommt das nicht daher, dass wir uns alle machtlos fühlen und nicht wissen, was wir tun sollen? Wir brauchen jemanden, der uns führt, der uns versichert, dass es möglich ist. Und ich glaube nicht, dass ich dieser Jemand bin. Ich war vielleicht ein Katalysator für die Rebellion, aber ein Anführer sollte jemand mit Überzeugung sein, und ich bin ja selbst gerade erst bekehrt.
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