Gefährliche Praxis
einem Flirtversuch, und doch hatte Kate mit Erschrecken festgestellt, daß er allen Frauen im Raum aufgefallen zu sein schien. Ihr Schreck hatte sich in Belustigung verwandelt, als er mit ihr sprach und sie ziemlich einfältig reagierte, wie sie fand.
Dieser Mann hier war nicht so jung. An den Schläfen waren seine Haare schon grau. »Sie sind Dr. Barrister, nicht wahr?« sagte Kate. Und sie hatte Schwierigkeiten, nicht noch hinzuzufügen »unser Hauptverdächtiger«. »Ich bin Kate Fansler, eine Freundin von Mrs. Bauer. Ich sage ihr Bescheid.«
Als Kate nach hinten ging, bemerkte sie, wie stark in der Tat die Verbindung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit ist. In der Vorstellung hatte gutes Aussehen immer etwas Unheilvolles an sich, doch jetzt, das gute Aussehen direkt vor Augen, strahlte es Unschuld aus. Natürlich war es kein Zufall, daß in der westlichen Literatur, ganz bestimmt im volkstümlichen Teil, Schönheit und Unschuld gewöhnlich als Einheit gesehen wurden.
Alle drei standen sie schließlich, an diesem patientenlosen Tag, im Wohnzimmer. Nicht, daß Nicola sie aufgefordert hätte, Platz zu nehmen; Nicola ignorierte gesellschaftliche Formen nicht so sehr – für sie schienen sie überhaupt nie existiert zu haben.
»Ich wollte nur einmal vorbeischauen und nachfragen, wie Sie zurechtkommen«, sagte Dr. Barrister zu Nicola. »Ich weiß, ich kann nichts für Sie tun, aber ich kann nur schwer dem Impuls widerstehen, mich nachbarschaftlich zu benehmen, sogar in New York, wo Nachbarn sich selten kennen.«
»Sind Sie nicht aus New York?« fragte Kate, um irgend etwas zu sagen.
»Gibt es hier überhaupt New Yorker?« fragte er.
»Ich bin eine New Yorkerin«, sagte Nicola, »und mein Vater war auch von hier. Sein Vater allerdings kam aus Cincinnati. Woher stammen Sie?«
»Einer von diesen oberschlauen Kritikern hat, wenn ich es richtig verstanden habe, eine neue Art von Romanen entdeckt, die von dem jungen Burschen aus der Provinz handeln. Ich war so ein junger Mann aus der Provinz. Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, wie es Ihnen geht.«
»Emanuel mußte für heute seinen Patienten absagen. Wir hoffen, in ein, zwei Tagen ist er soweit, daß er wieder Patienten empfangen kann.«
»Das hoffe ich auch. Lassen Sie mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann? Ich bin voll guten Willens, mir fehlen bloß die Ideen.«
»Ich weiß«, sagte Nicola. »Wenn es einen Toten oder einen Kranken in einer Familie gibt, dann schickt man Blumen oder etwas zu naschen. In diesem Fall, nehme ich an, können Sie nichts anderes tun, als jedermann erzählen, daß Emanuel und ich es nicht getan haben. Kate ist dagegen voller Ideen und wird den Mörder finden.« Dr. Barrister sah Kate interessiert an.
»Ich werde jetzt etwas ganz anderes tun«, sagte Kate, »nämlich nach Hause gehen.«
»Ich fahre Richtung East Side«, sagte Dr. Barrister. »Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Kate, »aber ich muß in die entgegengesetzte Richtung.«
Kate saß im Taxi und war auf dem Weg nach Hause, als ihr Jerry einfiel.
6
N atürlich hatte Kate noch das ganze Wochenende, bevor am Montag wieder ihre Vorlesungspflichten begannen. Aber eine gewisse Vorbereitung darauf war notwendig, ganz besonders deshalb, weil sie in den vergangenen Tagen den Kontakt zur akademischen Welt so sehr verloren hatte, als sei sie ein Jahr lang weg gewesen. Man hatte schließlich seine Verpflichtungen dem Beruf gegenüber, egal ob nun ein Mord passiert und entsprechende Untersuchungen notwendig waren oder nicht.
Und was sollte sie nun genaugenommen untersuchen? Einiges war sicherlich mit ein paar tiefgründigen Fragen in der Umgebung des Wohnheims zu erfahren, in dem Janet Harrison gelebt hatte; und beim Durchsehen der Unterlagen in der Universität würde ihr vielleicht auch etwas Interessantes auffallen. All das konnte sie in Angriff nehmen, ohne dabei mit ihren beruflichen Pflichten zu kollidieren. Aber die Polizei hatte das Feld bereits mehr oder weniger abgegrast, und deswegen versprach sie sich mehr von Nachforschungen über die anderen Verdächtigen, denen die Polizei nicht mehr als ein oberflächliches Interesse entgegenbringen würde: die Patienten vor und nach Janet Harrison, beide männlichen Geschlechts; der Fahrstuhlführer und jeder andere in der Gegend herumlaufende Mann, der sich hoffentlich ein- und von dem sich herausstellen würde, daß er Janet Harrison gekannt hatte, wie oberflächlich auch
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