Gefährliche Praxis
findet. Mike, so nennen wir ihn jetzt einmal, marschierte also los und begegnete in der kanadischen Wildnis einem Mädchen namens Janet Harrison. Sie verliebten sich ineinander…«
»Aber ihr Vater war der mächtigste Mann im ganzen Königreich, sein Vater jedoch nur ein armer Holzfäller.«
»Wenn du unterbrichst, erzählt Mami die Geschichte nicht zu Ende, und du mußt sofort schlafen gehen. Nach einiger Zeit mußte das Mädchen wieder heim, und so trennten sie sich, einander ewige Liebe schwörend. Michael Barrister aber begegnete einem anderen Mann, einem Mann, der ihm sehr ähnlich sah. Zusammen wanderten die beiden weiter. Mike sprach frei und offen mit dem Mann, so, wie man das gegenüber Fremden oft tut. Er erzählte ihm viel von sich selbst, aber nichts von dem Mädchen. Eines Nachts tötete der Fremde Mike und begrub seinen Leichnam in der kanadischen Wildnis.«
»Kate, um Himmelswillen…«
»Vielleicht war es ein Unfall. Vielleicht wurde dem Fremden erst nach Mikes tödlichem Unfall klar, in welch schwieriger Lage er sich befand, und er kam deswegen auf die Idee, Mikes Identität anzunehmen. Das war ein enormes Risiko, denn wieviel hätte dabei schiefgehen können… Aber es ging nichts schief. Jedenfalls sah es so aus. Die Sache mit der alten Dame war schon ein Problem, aber das schien sich von selbst zu lösen. Eine Schwierigkeit lag natürlich darin, daß Mikes Freunde auftauchen könnten, aber die würde er kurz abfertigen – sie müßten eben annehmen, er hätte sich verändert. Es sah so aus, als hätte er das Glück auf seiner Seite. Die Leiche wurde nie entdeckt. Wenn er Briefe bekam, beantwortete er sie. Der echte Mike hatte glänzende Zeugnisse, und so hatte der Fremde keine Schwierigkeiten, eine Praxis zu eröffnen. Das Verfahren wegen des Kunstfehlers war zwar ein Unwetter, das über ihn hereinbrach, aber er überstand es.
Und dann kam das erste gewaltige Problem: Janet Harrison. Ihre tatsächliche Ankunft in New York verzögerte sich um einige Jahre. Sie besuchte die Schwesternschule und hatte vor, später zu Mike nach New York zu gehen; in ihren Briefen war davon oft die Rede. In seinen Antwortschreiben versuchte er, ohne grob zu werden, die Liebesgeschichte langsam sterben zu lassen. Er brauchte immer länger, um auf ihre Briefe zu antworten. Als ihre Mutter starb, mußte sie heimfahren. Doch schließlich kam Janet Harrison, die Nemesis, trotz aller Verzögerungen nach New York. Sie hatte nie aufgehört, ihn zu lieben, und sie glaubte nicht oder konnte nicht glauben, daß seine Liebe zu ihr erloschen war.
Er konnte sich natürlich schlecht weigern, sie zu treffen. Er dachte zwar an diese Möglichkeit, aber vielleicht würde sie mit anderen darüber reden, und alles in allem schien es ihm klüger, zu wissen, was sie vorhatte. Selbstverständlich bemerkte sie schon bald, daß er nicht Mike war. Bei genügend großer Ähnlichkeit ist es gewiß leicht, Leute zu täuschen. Das stelle ich mir jedenfalls vor. Es fällt den Leuten nicht auf, daß du nicht der bist, für den du dich ausgibst – sie meinen einfach, du hättest dich verändert. Aber eine Frau an der Nase herumzuführen, die einen Mann geliebt und mit ihm geschlafen hat, ist eine andere Sache. Sie war ein verschlossener Mensch – was für ihn ein Vorteil war –, aber sie war entschlossen, diesen Michael Barrister als Betrüger zu entlarven und den Mord an dem Mann, den sie geliebt hatte, zu rächen. Sie wußte, daß sie in Gefahr war – und so machte sie ein Testament und hinterließ ihr Geld dem Mann, den ihr Mike bewundert hatte und der so zu sein schien wie er. Unglücklicherweise hinterlegte sie die Beweise gegen den falschen Mike, falls sie welche gesammelt hatte, nicht bei dem Anwalt, der ihr das Testament aufgesetzt hatte. Sie bewahrte sie in ihrem Zimmer auf oder in einem Notizbuch, das sie mit sich herumtrug. Deshalb mußte er, auch wenn das Risiko enorm war, ihr Zimmer durchsuchen und, nachdem er sie umgebracht hatte, auch ihre Handtasche.«
Kate lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Sie machte es sich zur Gewohnheit, auf der anderen Straßenseite Posten zu beziehen und seine Praxis zu beobachten. Sie wollte ihn nervös machen, und zweifellos hatte sie damit Erfolg. Aber schließlich brauchte sie einen Vorwand für ihr tägliches Auftauchen, und jetzt kommt Emanuel ins Spiel. Ein- oder zweimal sah sie mich nach einem Besuch bei Emanuel und Nicola aus dem Haus kommen. Wenn sie zu mir ginge, würde ich ihr dann
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