Gefaehrliche Schatten

Wasser. Sekunden später tauchte sie vor den Scouts auf. Sie strich sich die roten Strähnen aus ihrer Stirn und meinte: «Na, was sagt ihr? Ist doch ein Klacks, oder?»
    «Wie man’s nimmt», antwortete Richie. «Ich persönlich verdaue gerade noch einen Otter.»
    Immer mehr Otter schwärmten um sie herum. Sie tauchten und drehten sich, wobei immer nur ihr Kopf oder ihr Rücken aus dem Wasser schaute.
    «Ich sehe kein Tor in die Stadt der Artenvielfalt», sagte Noah.
    «Das liegt daran, dass du in die falsche Richtung guckst», meinte Hanna.
    Noah deutete auf die steilen Felswände. «Wenn wir die ersteigen müssen, um hier rauszukommen, dann dauert das bestimmt länger als zehn Minuten.»
    «Wie gesagt, du guckst in die falsche Richtung. Denk dran – du bist in einem Turm.»
    Noah grübelte einen Augenblick, dann fiel ihm ein, was er vergessen hatte. Das Wasser. Er befreite sich von seinen Ottern und tauchte hinab in den See. Was er dort durch das klare Wasser erblickte, war so atemberaubend, dass er schnell wieder an die Oberfläche kam.
    «Was ist da unten?», wollte Megan wissen.
    Noah holte ein paar Mal Atem und keuchte dann: «Ohne Worte! Das müsst ihr sehen!»
    Und damit tauchte er ein zweites Mal. Die Scouts – und sogar Richie – folgten ihm. Gleich unter der Wasseroberfläche blinkte zu allen vier Seiten je ein Licht über einem Samtvorhang. Es waren die vier Durchgänge in die Stadt der Artenvielfalt. Die Turmwände bestanden aus leicht gerundetem Glas und reichten mindestens einhundertfünfzig Meter in die Tiefe. Durch den fernen Glasfußboden sah Noah glänzende Säulen und erkannte, dass der Turm aus zwei Teilen bestand: aus einem runden Tank, der über der Stadt auf einer Reihe von Säulen stand. Die gläsernen Wände boten einen ungehinderten Blick auf die Stadt der Artenvielfalt. Noah sah Gebäude und Bäume und Tiere, die über die Straßen liefen.
    Erst als sie die Luft nicht mehr anhalten konnten, tauchten die Scouts wieder auf.
    «Unglaublich!», stammelte Richie, und das Wasser spritzte ihm von den Lippen. «Diese Wände! Das Glas! Die Stadt! Das ist ja … unglaublich!»
    «Aber wie …» Megan sah sich um. «All diese Felsen hier – worauf stehen sie denn? Ich meine, wenn alles unter uns Glas ist, wie …»
    «Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf», sagte Hanna. «Ich bin keine Magiokologin, also kann ich es dir nicht erklären.»
    «Eine was?», fragte Noah. «Eine Magiokologin?»
    Hanna ließ ihr Kaugummi knallen. «Ihr müsst noch viel lernen – aber nicht von mir. Ihr wisst ja, ich kümmere mich nicht um die Lehrbücher. Jetzt interessiert mich nur, wie ich euch in die Stadt der Artenvielfalt kriege und dann wieder in den Zoo von Clarksville zurück. Seid ihr bereit?»
    Noah nickte stellvertretend für alle Scouts.
    «Gut. Gegen das, was jetzt kommt, war die bisherige Reise nämlich der reinste Spaziergang.»
    «Das meinst du nicht ernst, oder?», fragte Richie entsetzt.
    Hanna zwinkerte ihm zu. «Bereitet euch auf eine Achterbahnfahrt vor.»

[zur Inhaltsübersicht]
    21. Kapitel
    Durch den Wasserturm
    W ieder klammerten sich die Scouts an je ein Paar Otter, die sie über Wasser hielten. Mittlerweile schwammen über hundert Otter um sie herum, stießen mit dem Kopf gegeneinander und zogen V-förmige Wellen hinter sich her. Die Tiere schienen wegen irgendetwas aufgeregt zu sein.
    Damit man sie über das Geplatsche und Gequieke hinweg hören konnte, rief Hanna laut: «Okay, wie ihr schon gesehen habt, gibt es im Wasserturm vier Zugänge zur Stadt. Jeder Zugang führt zu einer anderen Straße. Wir werden diesen» – Hanna deutete mit dem Finger darauf – «Zugang nehmen.» Sie kaute auf ihrem Kaugummi herum. «Fertig?»
    Die Scouts nickten.
    «Dann macht es mir einfach nach.»
    Sie hob den Arm über den Kopf, als wolle sie ein Taxi rufen, und ungefähr zwanzig Otter schlossen sich um sie herum. Sie holte tief Luft und tauchte. Die Otter drängten sich dicht an sie heran, umklammerten sie überall an ihrem Körper und schlugen mit den Hinterbeinen, bis sie alle einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten. Schließlich bildeten sie von der Schnauze des ersten Otters bis zum Rumpf des letzten eine Einheit und trugen Hanna dicht unter der Wasseroberfläche davon.
    Gerade als Noah sich fragte, wann Hanna Luft holen würde, hoben die Otter sie wieder an die Oberfläche und gestatteten ihr, Luft zu holen, bevor sie wieder mit ihr ins Wasser stürzten und sich in Richtung Turmwand