Gefaehrliche Spur
heraufgeholt hatte? Sie stand auf und sah in ihrer Umhängetasche nach unter dem Vo r wand, das Ladegerät für ihr Smartphone zu suchen. Sie atmete auf, als sie sah, dass alles noch da war. Damit er keinen Verdacht schöpfte, dass sie kontro l lierte, ob ihr Geld noch da war, suchte sie noch weiter ihr Ladegerät, bis sie es in der Schreibtischschublade fand , und hängte das Smartphone ans Netz. Leider lenkte die Geschäftigkeit sie nicht genügend von dem Bewusstsein ab, dass Tom im Sessel saß und mit jeder Minute das Zimmer mehr auszufüllen schien.
Sie fuhr erneut zusammen, als er aufstand und die Glieder streckte. Er sah sie an. War der Blick aus diesen unwahrscheinlich bernsteinfarbenen Augen wirklich bedrohlich oder bildete sie sich das nur ein? Sie tastete nach ihrer Pistole am Gürtel, aber die hatte sie vorhin unter das Kopfkissen gelegt. Und das Bett war zu weit entfernt, um …
„ Ich hätte es wirklich vorgezogen, diese Situation nicht erleben zu mü s sen.“ Seine Stimme klang leise und einschmeichelnd. „Sie laden mich in Ihr Zimmer ein, um mir was Gutes zu tun – was, nebenbei bemerkt, ziemlich leichtsinnig ist –, dann zwingen Sie mich, zwei Stunden hierzubleiben, und obendrein verhalten Sie sich, als würden Sie in mir ein gefährliches Tier s e hen, das jeden Moment über Sie herfällt.“
„ Ich kann mich wehren.“ Ihre Stimme klang gepresst. Außerdem zitterte sie.
„ Träumen Sie weiter. Ich bin ausgebildeter Nahkämpfer. Wenn ich wollte, hätte ich Sie in drei Sekunden getötet, ohne dass Sie die geringste Chance hätten. Und wenn ich derartige oder andere unlautere Absichten hätte, dann hätte ich sie längst in die Tat umgesetzt.“ Er blickte sie ernst aber dennoch mitfühlend an. „Also was ist dein Problem, Ryanne?“
Was ist dein Problem, süße Ryanne? Du gehörst mir. Bis in alle Ewigkeit. Die leise, einschmeichelnde Stimme, die nicht zu dem Skalpell passte, das er in der Hand hielt, und auch nicht zu dem kalten Blick seiner eisblauen Augen, die durch die sterile Weiße des Raums noch kälter wirkten. Der Schnitt, der Schmerz, die Hilflosigkeit und Bewegungsunfähigkeit, zu der die Fesseln sie verdammten, während das Skalpell über ihre Stirn fuhr, ihre Schläfe, ihre Wange …
Raus hier! Und weg! Weg, weg, weg!
Sie wankte zur Tür auf Beinen, deren Muskeln zu verkrampft waren, um sie zu tragen. Sie bekam keine Luft mehr. Brach zusammen. Versuchte, wieder hochzukommen und schaffte es nicht. Nur raus hier, bevor er … Er fluchte. Packte sie, hob sie hoch. Sein Geruch stach ihr in die Nase nach … Sande l holz und Honig – nicht Kernseife und Desinfektionsmittel. Sie wurde aufs Bett gelegt. Sanft.
„ Sch, sch, ganz ruhig. Du bist in Sicherheit.“
Es ist vorbei. Der Kerl kann Ihnen nichts mehr tun. Der tut nie wieder jemandem was an. Ruhig atmen. So ist es gut. Es ist alles in Ordnung.
„ Es ist nur ein Flashback, keine Realität. Du bist hier sicher, und es ist alles gut.“
Sie fühlte seine Hand die ihre berühren, klammerte sich daran und japste nach Luft, die ihre Lungen endlich wieder in einem Maß einsogen, das zum Weiterleben reichte. Der sterile Raum ihrer Fantasie verwandelte sich in das blau gestrichene, farbenfrohe Zimmer im Pomegranate Inn. Der Schlächter löste sich auf und wurde zu Tom, der neben ihrem Bett kniete, ihre Hand hielt und ihr mit ruhiger Stimme immer wieder versicherte, dass sie in Siche r heit sei. Rya merkte, dass ihr Gesicht nass war , und wurde sich bewusst, dass sie weinte wie ein Kind. O Gott, was musste er von ihr denken? Dass sie ein hysterisches , psychisches Wrack war ?
„ Tut mir leid“, flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Du musst dich nicht entschuldigen. Wir Veter a nen sind fast ausnahmslos Spezialisten für p osttraumatische Belastungsst ö rung und haben unsere Flashbacks. Ich kenne das sehr gut.“ Er sah sie au f merksam an. „Was habe ich gesagt oder getan, das es bei dir ausgelöst hat? Wenn du mir das sagst, achte ich darauf, es nicht wieder zu tun.“
Sein Verständnis tat gut, aber ihr fehlten die Worte. Für eine Weile zumi n dest, in der er sie anblickte und ihre Hand hielt. Als ihr bewusst wurde, dass sie sich immer noch daran klammerte, ließ sie sie hastig los und empfand im selben Moment ein Gefühl von Verlust.
Tom stand auf, zog den Stuhl vom Schreibtisch heran und setzte sich in respektvoller Entfernung darauf. Rya richtete sich auf und atmete ein paarmal tief durch. Am liebsten
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