Gefährliche Stille
über das nachdachte, was sie mir erzählt hatten.
Während von den übrigen Freunden und
Verwandten niemand mehr Ma nach dem vierten Monat ihrer angeblichen
Schwangerschaft zu Gesicht bekommen hatte, war Fenella mehrmals bei ihr
gewesen, im Haus ihrer Mutter in San Luis Obispo. Fenella hatte in dieser Zeit
gerade ihre eigene Mutter — meine indianische Urgroßmutter, Mary McCone — über
eine Lungenentzündung hinweggepflegt. Fenella und ihre Mutter hatten sich näher
gestanden, als dies zwischen Müttern und Töchtern üblich war.
Fenella, so behauptete Jim, sei in
vielem wie ich gewesen: wagemutig, unkonventionell und neugierig. Als Pa und
Jim klein gewesen waren, hatte sie sie manchmal spontan ins Auto gepackt und
war mit ihnen zum Zelten oder Angeln gefahren. Später war sie dann auf
Frachtern um die Welt geschippert. Trotz etlicher Anträge hatte sie nie
geheiratet, wohl aber eine Zeit lang mit einem Schauspieler »in Sünde gelebt«.
Sie hatte getrunken wie ein Kutschersknecht und mit über vierzig das
Bergsteigen für sich entdeckt. Mit fünfzig hatte sie sich an der San Diego
State University eingeschrieben und vier Jahre später ihren Abschluss in
Anthropologie gemacht — ein Interessengebiet, das aus ihrer intensiven
Beschäftigung mit den eigenen indianischen Wurzeln erwachsen war. Irgendwann in
den Fünfzigerjahren hatte sie das Reservat besucht, wo die Verwandten ihrer
Mutter lebten.
Dieses Informationsfetzchen erstaunte
mich. Meine Eltern hatten behauptet, Mary McCone habe nie darüber gesprochen,
wie sie gelebt hatte, ehe sie in Flagstaff, Arizona, aufgetaucht war und meinen
Urgroßvater in den Westen begleitet hatte. Sie habe ihr indianisches Erbe
verleugnet, sei eine gutkatholische Hausfrau und Mutter geworden und habe nie
mehr einen Blick zurückgeworfen. Doch jetzt sah es so aus, als hätte sie mit
ihrer Tochter über die Vergangenheit geredet.
Welches Reservat?, fragte ich Jim. Er
wusste es nicht. Was hatte Fenella dort gemacht? Wen hatte sie getroffen? Das
habe sie nie gesagt; sie habe manchmal so eine geheimniskrämerische Art gehabt.
Und das war’s. Nicht viel. Susans und
Jims Erinnerungen mochten verzerrt, subjektiv gefärbt oder verblasst sein. Aber
zumindest hatte ich jetzt ein klareres Bild von dieser Frau, die ich vielleicht
hätte mögen können, hätte ich Zeit gehabt, sie kennen zu lernen. Als sie
gestorben war, war ich erst dreizehn gewesen, ein egozentrisches und
konformistisches Alter. Damals war sie für mich einfach nur die Verwandte mit
dem zu kurzen Rock und dem zu hoch toupierten Haar gewesen, peinlich, als ich
ihr einmal in Gegenwart meiner Freundinnen im Einkaufszentrum begegnet war.
Es wurde allmählich spät, und mir ging
auf, dass ich Hy nicht wie versprochen angerufen hatte — ein Versäumnis, das
zweifellos damit zu tun hatte, dass ich mich davor scheute, ihm von der Sache
mit der Adoption zu erzählen. Jetzt riss ich mich zusammen, wählte und erreichte
ihn bei mir zu Hause. Meine Angst verflog in dem Maß, wie ich meine Geschichte
herausließ. Er schien eher weniger überrascht als alle, denen ich sie bisher
erzählt hatte. »Na ja, es gibt schlimmere Familiengeheimnisse«, sagte er. »Wie
willst du jetzt damit umgehen?«
»Keine Ahnung. Weiterfragen, schätze
ich.«
»Warum nimmst du dir nicht noch mal
deine Mutter vor?«
»Nein! Nicht nach dem, was sie heute
gemacht hat. Nach diesem Anruf bei Jim und Susan. Ich weiß, ehrlich gesagt,
nicht mal, ob ich sie überhaupt je wieder sehen will.«
»Das ist nur die Wut.«
»Habe ich vielleicht kein Recht, wütend
zu sein?«
»Du hast ein Recht zu fühlen, was immer
du fühlst. Aber ich finde, du solltest nicht mit ihr brechen, bevor du nicht
die ganze Geschichte kennst.«
»...Du bist weise wie immer.«
Er ignorierte die Bemerkung. »Was ist
mit dem Anwalt, der die Adoption abgewickelt hat? Vielleicht könnte der dir ja
was sagen.«
»Das habe ich nachgeprüft, ehe ich von
San Diego abgeflogen bin. Er ist schon lange tot, aber ich bezweifle sowieso,
dass er’s getan hätte.«
»Alte Freunde der Familie?«
»Hab schon ein paar angerufen. Niemand
schien irgendwas zu wissen. Wenn Ma und Pa das mit der Adoption vor der
Verwandtschaft geheim gehalten haben, dann doch wohl erst recht vor Freunden.«
»Ich habe gehört, es gibt im Internet
Pinboards, wo Adoptierte Zettel anheften können, für den Fall, dass ihre
leiblichen Eltern sie suchen.«
»Vielleicht versuche ich das. Aber die
Chance ist so klein.
Weitere Kostenlose Bücher