Gefährliche Stille
Sachlage
erläutert und ihr aufgetragen, einen Termin mit Glenns Mandanten zu machen.
Dann wählte ich Johns Nummer in San Diego.
»Hey, heute ist mein Schwesterntag«,
sagte er. »Ich habe gerade schon mit Charlene und Patsy geredet.«
»Wann sind denn Charlene und Vic aus
London zurückgekommen?«
»Gestern. Sie haben den Aufenthalt
abgekürzt; Pas Tod hat sie sehr getroffen.«
»Und Patsy?«
»Ach, du weißt ja, die frisst so was
eher in sich rein. Von Joey haben sie beide nichts gehört. Langsam habe ich das
Gefühl, es wird uns überhaupt nie gelingen, ihm das mit Pa zu erzählen.«
»Er wird schon auftauchen, wenn er so
weit ist.« Letzten Winter hatte er seinen Kellnerjob in McMinnville, Oregon,
geschmissen und war verschwunden, bis Juni, da hatte er Ma eine
Geburtstagskarte aus Eureka geschickt, einem Holzfällereizentrum in
Nordkalifornien.
»Ja, vermutlich.« John zögerte. »Ma hat
mich ein paar Mal angerufen.«
»Ach? Was wollte sie?«
»Dass ich dich zur Vernunft bringe.«
»Und gedenkst du’s zu versuchen?«
»Wäre sowieso aussichtslos, selbst wenn
ich’s wollte.«
»Hast du Charlene und Patsy erzählt,
was ich entdeckt habe?«
»Ich finde, das kommt mir nicht zu,
aber Ma wird sicher allen erzählen, was für ein undankbares Kind du bist.«
»Das hat sie gesagt?«
»Sinngemäß.«
»Du liebe Güte!«
»Und? Was hast du von Jim und Susan
erfahren?«
Ich erzählte es ihm und fügte hinzu:
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Fährst du mal rüber zu Pas Haus und
guckst diese Dokumente durch? Stellst fest, ob da so was ist wie eine
Heiratsurkunde von Urgroßmama und — papa? Oder Geburtsurkunden von Fenella und
Grandpa James. Irgendwas, woraus hervorgeht, wie Mary McCone mit Mädchennamen
hieß. Und wenn du schon mal dabei bist, guck doch bitte, ob Pa irgendwas von
Fenellas Sachen aufgehoben hat.«
Lange Pause. »Shar, vielleicht hat Ma
ja Recht. Kannst du das nicht einfach lassen? Sind wir dir denn nicht Familie
genug?«
»Es geht mir nicht um Familie.«
»Worum dann?«
Diese Frage hatte ich mir auch schon
gestellt. Identität vermutlich. Meine Geschichte. Die Wahrheit. Und noch etwas,
was ich im Moment noch nicht benennen konnte.
»Schau mal nach, ja? Bitte?«
»Nur wenn du sagst: ›Bitte, bitte,
großer Bruder.‹« Versuchte er absichtlich, mich an unsere gemeinsame Kindheit
zu erinnern, in der Hoffnung, so das Band zwischen uns zu festigen?
»Sag’s!«
Ich seufzte. »Bitte, bitte, großer
Bruder. Lieber großer Bruder.«
21 Uhr 47
Von ihrem Platz auf der Sofalehne aus,
betrachtete mich Alice, meine gescheckte Katze, aus schmalen Schlitzaugen. Auf
dem Kaminvorleger morste ihr Bruder Ralph, der Orangegetigerte, mit der
Schwanzspitze Beunruhigung. Beide hatten meine Unruhe und Anspannung
mitgekriegt und fürchteten jetzt vermutlich, sie seien in irgendeiner Weise
daran Schuld.
Ich ließ die Akte über die Shoshonen,
die Mick zusammengestellt hatte, auf den Boden plumpsen. Alice vollführte eine
Levitationsnummer und flitzte in die Küche. Ralph versuchte, den Coolen zu
mimen, indem er gähnte und sich streckte, ehe er ihr folgte. Im Zweifelsfall
immer zum Fressnapf, gucken, ob es dort Brekkies zu knuspern gibt.
Hy übernachtete heute auf seiner Ranch
in der Hochwüste, also hatte ich seine Abwesenheit genutzt, um mich durch den
Berg von Informationen zu arbeiten, beginnend mit dem Thema Adoption und endend
mit den amerikanischen Ureinwohnern. Das Adoptions- und Genealogiematerial war
trocken, langweilig und off unverständlich, aber die Shoshonen-Geschichte ganz
und gar nicht: die Begleitfotos zu den Texten, die Mick mir beschafft hatte,
überzeugten mich, dass diese Menschen meine Verwandten waren. Und schürten
meinen Verdacht, dass mindestens ein leiblicher Elternteil von mir jemand war,
den Fenella bei diesem Aufenthalt im Reservat kennen gelernt hatte.
Es bestand wenig Einigkeit, was diesen
Stamm anging, und das gefiel mir, denn es zeugte von Komplexität. Der
Stammesname wurde mal Shoshone und dann wieder Shoshoni geschrieben, und einige Autoren sprachen von Snake-Indianern. Die — zumeist
nicht-indianischen — Historiker lobten den Stamm für seine freundliche Haltung
gegenüber dem weißen Mann, zitierten aber zugleich die Schimpfnamen, mit denen
die Shoshonen deshalb von ihren kriegerischeren Brüdern belegt worden waren — von
»falsche Indianer« bis »dreckige Hundefresser«. Es hatte ihr Ansehen bei
anderen Stämmen auch
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