Gefährliche Stille
zwischen Jim und Susan hin und her geht. Das tun sie immer
schon: diese kurzen, viel sagenden Blickwechsel, dieses Ohne-Worte-Kommunizieren.
Sie sind bei einer Party, und Jim will gehen, also guckt er Susan an, und sie
verschafft ihnen einen taktvollen Abgang. Susan will das Gesprächsthema
wechseln, also guckt sie Jim an, und er lässt eine von seinen Bowling-Anekdoten
vom Stapel. Was also bedeutet dieser Blick?
Ihm ist etwas eingefallen, und als er
Susan anguckt, fällt es ihr auch wieder ein. Es ist nichts Gutes, und plötzlich
haben sie das Gefühl, vielleicht zu viel geredet zu haben. Sie wollen mich
schützen, also bringt Jim das Gespräch auf Fenellas Eigenheiten, in der
Hoffnung, dass ich das mit dem Reservatsbesuch vergesse.
Keine Chance. Nicht die geringste
Chance, dass ich irgendeine dieser Leerstellen vergessen oder übergehen werde.
Donnerstag,
7. September
13 Uhr 32
»Hier ist das Zeug über die Shoshonen.«
Mick ließ den Ordner auf meinen Tisch
plumpsen. Das Ding war etwa fünf Zentimeter dick. Der Aktenordnerstapel auf
meinem Tisch wurde immer höher: Artikel aus dem Bereich der Genealogie; Listen
von Datenbanken; Ausdrucke von Websites; Paragraph 13 des kalifornischen
Familiengesetzes, Adoptionen betreffend. Letzteres war eine mühselige Lektüre
gewesen. Ich guckte öfters mal zu meinem Amüsement in Gesetzbücher, aber
nachdem ich eine Stunde mit diesem Zivilrechtswerk zugebracht hatte, musste ich
feststellen, dass ich Strafrecht wesentlich unterhaltsamer fand.
»So viel«, sagte ich zu Mick, »über
einen kleinen Indianerstamm?« Ich hatte ihn um diese Informationen gebeten,
weil ich mir sehr sicher war, dass Fenellas Reservatsbesuch in unmittelbarem
Zusammenhang mit meiner Adoption stand, aber ich hatte nicht damit gerechnet,
mit Material überschwemmt zu werden.
Er hockte sich mit einer Pobacke auf
meine Schreibtischkante und guckte so selbstgefällig, wie er es immer tat, wenn
er über irgendetwas mehr wusste als ich. »Das ist kein kleiner Stamm, Shar. Es
gibt alle möglichen Untergruppen von Shoshonen: Bannock, Lemhi, Nördliche,
Östliche und Duckwater-Shoshonen, Ely, Fallon Pajute. Und sie sind überall
verstreut, über Wyoming, Idaho, Montana, die Nordweststaaten, Nevada, Arizona,
Kalifornien. Ich hab dir auch noch ein paar Bücher bestellt.«
»Worüber?« Ich rieb mir die Stirn über
der rechten Augenbraue, wo sich rapide ein Kopfschmerz ausbreitete.
»Geschichte, Sitten und Gebräuche, Glauben, Kunst und Handwerkskunst. Das
Reservatssystem und den Status quo. Ich habe mir gesagt, wenn du unsere
Familiengeschichte zurückverfolgen willst, solltest du so viel wie möglich
wissen.«
Mick glaubte, ich hätte ihm diese
Aufgabe nur deshalb übertragen, weil Pas Tod bei mir plötzlich ein reges
Interesse an der Familiengeschichte ausgelöst hatte. Er war durch den Verlust
immer noch ganz schön aus dem Gleichgewicht, und ich wollte ihn nicht noch
zusätzlich erschüttern, indem ich ihm das mit der Adoption erzählte. Noch nicht
jedenfalls.
»Guck nicht so entmutigt«, sagte er.
»Ist ziemlich leicht zu lesen. Das meiste Zeug aus dem Netz ist eher
impressionistisch.«
Ich beäugte den Ordner ungläubig. In
meiner College-Zeit hatte ich mit Begeisterung recherchiert, war off erst um
die Schließungszeit mit schwirrendem Kopf aus der Bibliothek gekommen, nur um
zu merken, dass ich eine Verabredung verpasst hatte. Aber heutzutage war die
Informationsmenge, die der Computer bot, einfach gigantisch. Bis ich mich durch
das ganze Zeug gewühlt und mir einen Ansatzpunkt für meine Suche ausgeguckt
hätte, wären meine leiblichen Eltern längst tot (falls sie es nicht ohnehin
schon waren), ich wäre eine alte Frau und meine Detektei wegen Vernachlässigung
vor die Hunde gegangen. Wie zur Demonstration summte das Telefon, und Teds
Stimme sagte: »Glenn Solomon auf der zwo.«
»Sag ihm, ich rufe zurück.«
»Er sagt, es ist dringend.«
Ich seufzte. Bei Glenn, einem
prominenten Strafverteidiger, der mir regelmäßig Aufträge zuschanzte, war immer
alles dringend. »Okay, ich rede mit ihm. Danke.« Als ich abnahm, salutierte
Mick und ging hinaus auf den Eisensteg vor unseren Obergeschossräumen. Sein
leicht melancholisches Pfeifen hallte von der gewölbten Decke des Piergebäudes
wider.
Eine halbe Stunde später hatte ich die
Details der Unterschlagungssache, in der Glenn als Verteidiger fungierte,
notiert, Charlotte Keim als meiner Expertin für den Finanzbereich die
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