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Gefährliche Stille

Gefährliche Stille

Titel: Gefährliche Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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kann?«
    »Hmm. Vielleicht Elwood Farmer. Seine
Mutter war Tendoys jüngste Tochter, die einen Weißen geheiratet hat. Elwood
wohnt in St. Ignatius, im Flathead-Reservat in Montana. Hat eine Frau von dort
geheiratet.«
    »Haben Sie seine Telefonnummer?«
    »Nein, aber ich halte es sowieso für
besser, wenn Sie einfach hingehen und direkt mit ihm reden.«
    »Wieso?«
    »Na ja, Elwood ist ein ungewöhnlicher
Mensch.«
    »Inwiefern?«
    »Sie werden schon sehen, Ms. McCone.
Sie werden schon sehen.«
     
    Heute noch rauffliegen? Oder warten,
bis morgen der Karton mit Fenellas Sachen kommt? Vielleicht ergibt sich da ja
noch eine verheißungsvollere Spur.
    Aber was ist schon ein Karton mit
leblosen Sachen, verglichen mit der Aussicht, einen lebenden Verwandten von
Mary Tendoy McCone zu treffen ?
    Also heute noch fliegen.

16 Uhr 10
     
     
    Der weite Himmel über Montana hing
voller dunkelmarmorierter Kumuluswolken, als ich bei Missoula den Highway 93 in
nördlicher Richtung nahm. Die zweispurige Straße verlief, parallel zu einer
Bahnstrecke, durch eine große, schüsselförmige Senke inmitten niedriger, faltig
geschichteter Berge. Kiefern drängten sich zu beiden Seiten unbefestigter
Fahrwege, die zu kleinen Viehfarmen mit schlichten Fertighäusern oder großen
Wohnwagen führten. In der Ferne sah ich die Rockies: klar umrissen und
zweidimensional, wie aus schwarzblauem Karton ausgeschnitten.
    Ich war leicht deprimiert — ein Spätnachmittagstief,
verursacht durch das Wetter — und nervös wegen der bevorstehenden
Kontaktaufnahme mit Elwood Farmer. Normalerweise fiel es mir nicht schwer,
einen Draht zu fremden Menschen zu kriegen, aber ich tat das ja sonst meistens
aus beruflichen Gründen, und diese Begegnung würde rein persönlicher Art und
von meiner Seite womöglich auch emotionsbeladen sein. Ich bedauerte, dass
Dwight Tendoy mir nicht mehr über Farmer erzählt hatte, aber ehe ich dazu
gekommen war, genauer nachzufragen, hatte er einen anderen Anruf bekommen, mir
noch rasch Farmers Adresse durchgesagt und dann unser Gespräch beendet.
    Arlee, die erste Ortschaft im
Flathead-Reservat, war winzig — kaum mehr als ein paar verstreute Holzhäuschen,
eine Bar und ein roter Wasserturm. Ich fuhr rasch durch. Als ich mich St.
Ignatius näherte, wurde meine Nervosität noch größer, und ich starrte auf die
Szenerie hinaus, als befände ich mich auf einem anderen Stern. Hier im
Indianerland lebten meine Verwandten, und doch hatte ich nichts mit ihnen gemeinsam.
Ich war in dem Bewusstsein aufgewachsen, schottisch-irischer Abstammung zu
sein, mit einem winzigen indianischen Einschlag, und nichts in meiner
Lebensgeschichte hatte mich hierauf vorbereitet. Ich wollte nur kehrtmachen,
nach Missoula zurückfahren und das erstbeste Flugzeug nach San Francisco
nehmen.
    Das Ortsschild von St. Ignatius tauchte
auf, dann, auf der linken Highwayseite, ein Vorposten des Tourismus: Doug
Allards Flathead-Indianer-Museum. Der Ort selbst lag rechts, also steuerte ich
dorthin. Kirche, Sozialzentrum, Läden, Bars, Cafés, Ärztehaus, Schule. Ein
altes Kino war in ein Maklerbüro umgewandelt worden. Die meisten Häuser waren
alt, mit falschen Fassaden und überdachten Veranden; sie hätten die Kulisse für
einen Western abgeben können. Ich war schon durch andere Reservate gefahren, in
Kalifornien und Arizona, aber dieses hier fand ich ganz anders; man hatte nicht
das Gefühl einer in sich geschlossenen Gemeinschaft, und viele Leute auf der
Straße waren weiß. Einigen hastig zusammengesuchten Informationsmaterialien,
die ich im Flugzeug gelesen hatte, war zu entnehmen gewesen, dass seit der
Weltwirtschaftskrise in Geldnot geratene Indianer einen Großteil des
Stammeslands an Außenstehende verkauft hatten. St. Ignatius war zwar nicht
gerade kosmopolitisch, aber immerhin ethnisch gemischt.
    Ich ging in ein Lokal namens Yesterday’s
Café und ließ mir den Weg zur Moose Lane beschreiben, wo Elwood Farmer wohnte.
Der Mann hinterm Tresen schien überrascht, dass ich fragen musste; ich mochte
mich ja wie ein Wesen von einem anderen Stern fühlen, aber in seinen Augen
fügte ich mich hier nahtlos ein. Er war weiß, und sein Blick glitt einmal kurz
an mir rauf und runter und wandte sich dann woandershin. Es war kein
diskriminierender Blick; für ihn zählte ich nur einfach nicht, und ich fragte
mich, wie viele solche Blicke mir im Leben schon zuteil geworden waren, ohne
dass ich es bemerkt hatte. Ich sah mich um und erfasste das halbe Dutzend

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